Europa. Die Zukunft der Geschichte

Welches Bild steht für Europa? Ist es der Fall der Berliner Mauer, sind es die universellen Menschenrechte, die Fussball-Europameisterschaften und der Grand Prix Eurovision de la Chanson? Seit der Antike steht kein einzelnes Bild mehr für Europa. Heute ist Europa ein facettenreiches Mosaik, das trotz tektonischer Spannungskräfte nicht mehr auseinanderzufallen droht. Dies ist die These, die die Ausstellung in künstlerisch-explorativer Form aufstellt.

Die Ausstellung erzählt von Utopien, Träumen und der Wirklichkeit. Sie unternimmt den Versuch, Darstellungsformen einer abstrakt anmutenden Vision von einem friedlichen Europa ideengeschichtlich zu transportieren. 1826 nahm Heinrich Heine vorweg, was heute unter "Special Interest"-Gruppen verstanden wird: "Täglich verschwinden mehr und mehr die törichten Nationalvorurteile, alle schroffen Besonderheiten gehen unter in der Allgemeinheit der europäischen Zivilisation. Es gibt jetzt in Europa keine Nationen mehr, sondern nur Parteien." Welche Partei ist die Kunst? Warum ergreift ein Museum Partei für ein politisches Projekt, und wird daraus ein kulturelles?

Der Spannungsbogen dieser Ausstellung umfasst das 19. und das 20. Jahrhundert. Im Fokus steht der Zeitraum von der Nationalstaatenbildung bis in die postnationale Interdependenz der Gegenwart. Die Schweiz trug und trägt viel zur Verbindung und Verständigung zwischen Staaten bei. Modellhaft löste sie multikulturelle Herausforderungen, vor denen Europa noch steht, im Konsens mit allen Bevölkerungsteilen. Ein Dutzend Werke aus dem Kunsthaus Zürich und anderen namhaften Sammlungen wie dem Centre Pompidou, Paris, und der Neuen Nationalgalerie Berlin geben Zeugnis von Künstlern, deren Wirkkräfte hier gebündelt werden konnten.

Doch ist dies keine Länderschau und die Kunst dient nicht der Illustration eines Geschichtsbuchs. Die Strenge und die Methodologie der Geschichtswissenschaft werden aufgebrochen. Es geht um Kunst und um Europa als zwei mehr denn je aktuelle avantgardistische Kräfte. Denn 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs hat der Kontinent mit einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit ohne imperialistische Machtansprüche Vorbildcharakter und Nachahmer gefunden.

Die generationenübergreifende, aktive Hinterfragung des Nationalismus und die kontinuierliche Friedensarbeit treibt viele Kunstschaffende an. In über 100 Arbeiten von London bis Kiew zeigen sie individuelle Reflexionen über Europa, über Freiheit und die Kunst. Oft sind die Gemälde, Zeichnungen, Fotografien, Filme und Installationen, die im grossen Ausstellungssaal des Kunsthauses ausgebreitet werden, über viele Jahre und in aufwändiger Recherche entstanden. Obwohl der Parcours von kulturellen Konstanten ausgeht, bleiben Dringlichkeiten und Symptome der aktuellen europäischen Lage nicht aussen vor. Themen wie "Entwicklungswege der Demokratie", "Krieg und Frieden", "Heimat – Fernweh – Heimweh" und "Gedächtniskultur, Amnesie und Nostalgie" sind mit der bewegten Historie und Gegenwart Europas verschränkt.

Die politische Kunst erlebt ein Comeback. Sie widersetzt sich der kommerziellen und hedonistischen Vereinnahmung, wie sie von immer mehr Institutionen betrieben wird, weil es die Aufmerksamkeitsökonomie optimiert. Es trifft den Nerv der Zeit, wenn der europäische Medienpreis 2013 an den als "Standing Man" berühmt gewordenen Aktivisten und Tänzer Erdem Gündüz verliehen wird, der durch seinen stillen Protest die Weltöffentlichkeit auf die Demokratiedefizite in der Türkei aufmerksam machte. Rückt jetzt die Kultur zurecht, was Politik und Wirtschaft entglitten ist? Indem das Kunsthaus Zürich unterschiedliche Befindlichkeiten und Zugänge beleuchtet, nimmt es Teil an einem Diskurs, der die Geschichtsreflexion mit künstlerischen Mitteln über ein historisch gewachsenes "Europa als Friedensprojekt" wiederbelebt.

Extra für die Ausstellung erworben wurde Dani Gals Videofilm "As from afar". Eigens für ihre Präsentation im Kunsthaus haben Marc Bauer, Karen Geyer, Thomas Imbach, Herlinde Koelbl und Valeska Peschke ihre Kunstwerke erweitert oder adaptiert. Marc Bauers fragiles Werk, bekannt für den Einsatz von historischen Symbolen und Zitaten, scheint – wie manche Idee oder manch materielles Gut – vom Verfall bedroht. Was Nikita Kadan zu erzählen hat, der ukrainische Künstler, der an der Biennale in Venedig 2013 den "Future Generation Art Prize" erhielt, ist ebenso aktuell wie die Beiträge des Griechen Stefanos Tsivopoulos oder des Künstler-Duos Maria Iorio/Raphaël Cuomo, die sich mit der Flüchtlingssituation auf der italienischen Insel Lampedusa befassen.

Neben den genannten sind u.a. die folgenden Künstler vertreten: Josef Albers, Kader Attia, Sven Augustijnen, Joseph Beuys, Arnold Böcklin, Alighiero Boetti, Osman Bozkurt, Herbert Brandl, Christoph Büchel und Giovanni Carmine, Honoré Daumier, Otto Dix, Andreas Duscha, Max Ernst, Ian Hamilton Finlay, Peter Fischli/David Weiss, Agnes Geoffray, Alberto Giacometti, Andreas Gursky, Ane Hjort Guttu, Fabrice Gygi, Klara Hobza, Ferdinand Hodler, Anna Jermolaewa, Ilya Kabakov, Bouchra Khalili, Paul Klee, Martin Kippenberger, Daniel Knorr, Rudolf Koller, Jacques Lipchitz, Richard Paul Lohse, Claude Monet, Max von Moos, Christian Philipp Müller, Claudia & Julia Müller, Edvard Munch, Marcel Odenbach, Uriel Orlow, Meret Oppenheim, Adrian Paci, Miranda Pennell, Cora Piantoni, Steve Reich, Hans Richter, Kurt Ryslavy, David Salle, Ceija Stojka, Karl Stojka, Remco Torenbosch, Félix Vallotton, Albert Welti, Nives Widauer und Artur Zmijewski.


Europa. Die Zukunft der Geschichte
12. Juni bis 6. September 2015