Europa der Diktaturen

In der Gegenwart verdichten sich in Europa antidemokratische, autoritäre Anzeichen in einzelnen Staaten. Offene Signale gegen Liberalität und Vielfalt, gezielte Maßnahmen gegen Meinungs- und Medienfreiheit zeugen davon. Analysen ziehen immer wieder Parallelen zur Vergangenheit, konkret zum Scheitern vieler Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg.

Welche Wege haben Europa damals in den Abgrund geführt? Ist der Vergleich mit der Gegenwart zulässig? Diese Themen greift die Web-Ausstellung "Europa der Diktaturen" auf, die das Haus der Geschichte Österreich (hdgö) unter » diktaturen.hdgoe.at launcht. Gleichzeitig wird die Freiluft-Ausstellung "Nach dem Großen Krieg" auf dem Heldenplatz in Wien bis 3. August 2021 verlängert.

Viele europäische Staaten errichteten nach dem Ersten Weltkrieg erstmals Demokratien. Stimmen gegen die Vielfalt von Meinungen und Parteien wurden schon von Beginn an laut. Bewegungen mit teils massivem Zuspruch diffamierten die Demokratie als dekadent oder dem "Volkscharakter" unangemessen. Sie versprachen, dass eine "neue Ordnung" Probleme lösen würde. Viele Demokratien, die 1918/1919 entstanden, wurden dadurch bald zu Diktaturen.

Welche Änderungen im Rahmen der ständigen Anpassung des politischen Systems einer Demokratie akzeptabel sind und wann ein Staat kippt, wird heute in Europa wieder intensiv diskutiert. Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede es zwischen damals und heute gibt, lässt sich fundiert nur mit einem guten Überblick der damaligen Entwicklungen einschätzen. Dazu leistet das neue Web-Angebot des hdgö, das sich gezielt auch an Jugendliche wendet, einen wichtigen Beitrag.

"Die Geschichte der ganzen und halben, nackten und geschminkten Diktaturen ist vielfältig und spannend, mit einer überragenden Botschaft: Die liberale Demokratie muss rechtzeitig und entschlossen gegen die autoritäre Versuchung verteidigt werden", sagt der renommierte Zentral- und Osteuropa-Experte Paul Lendvai.

"Es ist eine zentrale Aufgabe des Hauses der Geschichte Österreich, das Bewusstsein für die Fragilität der parlamentarischen Demokratie zu stärken. Es gilt die Kennzeichen von Diktaturen zu vermitteln, um sie auch in der Gegenwart erkennen zu können. Geschichtsbildung ist dabei das Um und Auf. Wer Entwicklungen wahrnimmt und sie einordnen kann, ist besser in der Lage, sich eine fundierte Meinung zu bilden und entsprechend zu handeln. Dafür haben wir unter anderem dieses digitale Tool entwickelt, das einen reichhaltigen Schatz an Informationen auf ganz neuartige, leicht zugängliche Weise aufbereitet", sagt Monika Sommer, Direktorin des hdgö. Die aktuell laufende Freiluftausstellung auf dem Heldenplatz, welche die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg mit Fokus auf Zentraleuropa darstellt, gibt im Wechselspiel zum digitalen Tool einen "analogen" Einblick. Auf Grund des hohen Interesses wird die Outdoor-Schau verlängert und ist nun bis 3. August 2021 zu sehen.

Die Web-Ausstellung

Die hdgö-Web-Ausstellung "Europa der Diktaturen" schafft unter » diktaturen.hdgoe.at eine völlig neue Übersicht über den gesamten Kontinent von 1914 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Zahlreiche Details zu jedem einzelnen Staat machen dabei die unterschiedlichen Ideologien erstmals im Detail vergleichbar – von Plänen zum radikalen Umsturz der Gesellschaft, über Eroberung, Geschlechterpolitik bis hin zur Beschränkung der Pressefreiheit. Die interaktive Landkarte der Web-Ausstellung bietet Überblicksinformationen zu jedem Staat Europas, von der Türkei bis Island und von Portugal bis zur Sowjetunion. Erzählt wird dabei auch die Geschichte vieler unabhängiger Staaten, die praktisch vergessen sind, etwa Mittellitauen und Fiume oder die multiethnischen Stadt-Staaten Danzig und Triest.

Jede Diktatur wird in neun einzelnen thematischen Schwerpunkten besprochen und analysiert. Grundlage sind nicht wie bislang quantitative Daten wie beispielsweise Wahlergebnisse oder Zusammensetzung der Bevölkerung. "Unsere interaktive Karte macht vielmehr qualitative Darstellungen gut zugänglich. Ein Klick auf das Land verrät mehr darüber, wie sich das jeweilige Regime selbst darstellte, welche Politik es verfolgte und wie sich die Situation entwickelte. Erstmals werden damit die politischen Entwicklungen im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Detail und gleichzeitig im groben Überblick erfassbar", so hdgö-Kurator Stefan Benedik. Einzigartig ist, dass alle Diktaturen nebeneinander und gleichzeitig zu betrachten sind. Damit werden auch Entwicklungen in wenig beachteten Regionen zugänglich, wie das vom Militär geführte Litauen oder Albanien, dessen Diktator sich zum König ausrufen ließ. Sichtbar wird so, dass die Entwicklung von Diktaturen ein europäisches Phänomen sind und sich Länder gegenseitig beeinflussten. Wenig bekannt ist beispielsweise, dass ab 1934 die Diktatur in Estland sich das Modell einer "ständischen Ordnung" aus Österreich zum Vorbild nahm.

Wege in die Diktatur

Eines der wichtigsten verbindenden Elemente aller Diktaturen ist aus heutiger Perspektive die Weigerung politischer Akteur_innen, die Legitimität ihrer Gegner_innen überhaupt anzuerkennen und Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu entwickeln. Die Demokratie selbst wurde als Ursache für Fehlentwicklungen ausgemacht. Das Parlamentes wurde als zentrales Problem dargestellt, als "Quatschbude", in der nur Zeit vertan würde. Eine vermeintliche Elite, die sich selbst reproduziert, sei in einer Demokratie an der Macht, somit wären demokratisch eingestellte Politiker_innen ganz unterschiedlicher Parteien die Feindinnen und Feinde "des Volkes". In der Vorgeschichte praktisch aller Diktaturen der Zeit stilisierten sich Parteien mit diktatorischen Tendenzen zu den Garanten dafür, dass der vorgebliche "Volkswille" durchgesetzt würde.

Eine "tatsächliche", "gerechte" Volksherrschaft sollte ihre Meinung durch Druck auf der Straße (etwa in Francos Spanien, Italien, Polen oder auch Deutschland) als homogene Position "des Volkes" ausdrücken. Nicht zufällig ließen die neuen NS-Machthaber_innen gleich nach dem "Anschluss" Österreichs auf dem Parlament in Wien ein Transparent mit dem Spruch "Das Volk regiert" hissen, das die tatsächliche Abwertung der Rechte der Staatsbürger_innen verschleierte und die völlige Entrechtung hunderttausender Verfolgter legitimierte.

Dass diese ideologischen Angriffe immer auch mit konkreten Taten zu tun haben, zeigt eine wesentliche Gemeinsamkeit aller Diktaturen: Parlamente als Ort der offenen Auseinandersetzung über politische Fragen waren meist eines der ersten Ziele des Umbaus eines politischen Systems. Damit einhergehend wurde die öffentliche Auseinandersetzung und die Berichterstattung in nicht kontrollierbaren Medien eingeschränkt. Alle Diktaturen verfolgten daher die Absicht, Journalismus durch Propaganda zu ersetzen, aber je nach ihrer Durchsetzungsfähigkeit ist das nicht überall gelungen. Selbst in den totalitären Regimen, die Meinungsfreiheit drastisch verfolgten, blieben abweichende Meinungen präsent.

Rechtsstaatlichkeit mit anderen Problemen als heute

Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit war für viele der neuen demokratischen Staaten in der Struktur ganz neu. Die Propaganda gegen demokratische Strukturen stellte sie sehr schnell als Makel dar: "Wahre" Gerechtigkeit sollte nicht über unabhängige Gerichte erfolgen, sondern den ideologisch vorgegebenen Pfaden folgen – eine Forderung, die in vielen Diktaturen auch tatsächlich umgesetzt wurde. Der Abbau der Gewaltentrennung war dabei oft schleichend, aber anders als die Parlamente leistete die Justiz in den meisten Fällen sogar noch Unterstützung für ihre eigene Entmachtung.

Ein sprechendes Beispiel dafür ist ein Fall aus Österreich: Der gescheiterte Putschist Walter Pfrimer wurde 1931 vollkommen freigesprochen. Dafür sorgten die Sympathien vieler Vertreter der Justiz für seine Politik und der Umstand, dass er selbst Rechtsanwalt war. Schon zeitgenössische Kommentare betrachteten das als ein Anzeichen für den bedrohten Zustand der österreichischen Demokratie. In vielen Ländern Europas schufen sich erfolgreiche Diktatoren unter ähnlichen Bedingungen ein neues Rechtssystem. Richter, Staats- und Rechtsanwälte beteiligten sich nicht selten aktiv daran, die Unabhängigkeit der Justiz zu beseitigen. Wie die Ermordung Matteottis in Italien zeigt, verkamen Gerichtsverfahren oftmals zu politischen Machtdemonstrationen.

Geschlechterpolitik als wichtiges Signal

Ein anderes Merkmal, das die Diktaturen Europas weitgehend eint, ist die Beurteilung der Rolle von Frauen im öffentlichen und politischen Leben. Viele Diktaturen rechtfertigten ihre eigenen Maßnahmen mit der angeblichen Notwendigkeit, der Nation ihren ursprünglichen Charakter und seine ursprüngliche Rolle zurückzugeben – eine Fiktion, die dazu diente, reaktionäre Geschlechterbilder durchzusetzen und Frauen auf bestimmte Bereiche des privaten Raums zu beschränken.

Gleichzeitig übernahmen Frauen in den rechten und rechtsextremen Bewegungen entscheidende und oft führende Rollen, weil sie als "Trägerinnen der nationalen Kultur" betrachtet wurden. Die estnische Diktatur legte ab 1934 daher beispielsweise nicht nur fest, dass der Abbruch einer Schwangerschaft wieder unter Strafe gestellt und das Frauenstudium abgeschafft werden sollte, sondern auch, dass Mütter eine zentrale Rolle in der Bildung des nationalistischen Staats eines "neuen Estland" haben sollten. Im stark antidemokratischen Polen hingegen wurden Frauenorganisationen und politisch aktive Frauen nicht eingeschränkt – wohl auch in Hinblick darauf, dass die meisten im Interesse der reaktionären Geschlechterpolitik des Regimes agierten.

"Viele dieser Aspekte werden auch im Europa von heute wieder intensiv diskutiert. Die Entwicklungen sind jedoch, wie auch schon in den 1920er und 1930er Jahren, sehr unterschiedlich ausgeprägt und sind nicht über einen Kamm zu scheren. Mit unserem Web-Tool wollen wir zu einem guten historischen Überblick beitragen und gleichzeitig differenzierte Einblicke in die einzelnen Länder schaffen. Damit lassen sich mögliche Parallelen, aber auch Unterschiede zu heute besser feststellen", so Monika Sommer.

Wie alle Angebote des hdgö steht die Webausstellung zweisprachig deutsch und englisch gratis zur Verfügung und kann auch von anderen Institutionen rechtefrei eingesetzt werden. So ist das virtuelle Tool beispielsweise Teil des gedruckten und digitalen Schulbuchs "querdenken 4" (Österreichischer Bundesverlag) für Geschichte und Politische Bildung in der achten Schulstufe. An dieser wichtigen Anspruchsgruppe des Museums orientiert sich die Web-Ausstellung auch in Bezug auf die gewählte Sprache und den Aufbau.