Essbare Klodeckel

20. Juni 2011 Kurt Bracharz
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Als ich neulich auf einer Speisekarte "Bodensee-Brassen" las, dachte ich zuerst, hier werde aber ordentlich geschwindelt: Die Brassen oder Sparidae, von denen man als Restaurantbesucher vor allem die Doraden kennt, sind doch Meeresfische und relativ teuer! Ich fragte den Kellner, ob nicht vielleicht die billigen, weil als Speisefisch wenig geschätzten Brachsen gemeint seien, und der hielt das zwar für gut möglich, aber der Fischer habe gesagt, man könne durchaus "Brassen" auf die Karte schreiben.

Beim Brachsen-Googeln kam dann die nächste Überraschung: Tatsächlich wird Abramis brama aus der Karpfenfamilie regional auch die Brachse, der Brachsen, der Brachsmen, die Brachsme, der Brassen, die Brasse, der Bresen oder der Blei genannt. Den letzten Namen verdankt der hochrückige, stark abgeflachte und deswegen manchmal als "Klodeckel" apostrophierte Fisch mit dem rüsselartig vorstülpbaren Maul der grünlich glänzenden, bleigrauen oder bleiblauen Färbung seines Rückens. Der Brachsen kann bis zu 16 Jahre alt werden und ein Gewicht bis zu 8 Kilogramm erreichen, wird aber meistens bei einem Gewicht von 2,5 bis 3 kg gefangen.

"Brachsenregionen" sind warme Seen mit schlammigem Grund und die Unterläufe großer Flüsse, Brachsen gedeihen aber auch in Schifffahrtskanälen, Baggerseen und Parkteichen. In Deutschland sind besonders Stauseen wie der Ismaninger Speichersee oder die Möhnetalsperre, aber auch die Weser, die Wilster Au beim Hamburg, der Große Plöner See oder die Ostsee als Brachsengewässer bekannt. Die größten Exemplare gibt es dort, wo Raubfische wie Hechte und Barsche den größten Teil der Jungfische fressen, wodurch für die Überlebenden das Nahrungsangebot besonders reichlich ausfällt.

Der Brachsen war früher ein Brotfisch beispielsweise der Bodenseefischer, wird aber heute wegen seines grätenreichen Fleisches und teilweise wegen seiner Schleimigkeit nicht mehr geschätzt. Steinbachs Naturführer "Süßwasserfische", München 2002, nennt exakt 129 Gräten, während auf Angler-Webseiten gefühlte "tausend Gräten" vermerkt werden. Hier findet man auch die Einschätzung als "Schleimer" oder "Rotzfisch" (der Brachsen soll der schleimigste europäische Süßwasserfisch sein), und ein Angler postete: "Wie verzweifelt muss man sein, wenn man ’nen Brassen essen will?" In den Antworten darauf wurde empfohlen, nur Brachsen über 50 cm zu verwenden, sie zu räuchern oder zu Bouletten zu verarbeiten.

Das sind auch die beiden in der Praxis am meisten verbreiteten Zubereitungen, den Brachsen auf den Tisch zu bringen. In bayerischen Kochbüchern findet man Rezepte für Fischmus, -knödel oder -würstel, für welche durch die Maschine gedrehtes Fleisch von Weißfischen verwendet wird, wobei mit Weißfisch vor allem der Brachsen gemeint ist, der sich übrigens nicht selten mit anderen, zur gleichen Zeit laichenden nahe verwandten Arten wie dem Güster (Abramis bjoerkna) kreuzt. Besonders bekannt sind die Fischwürste des Klosters Frauenwörth auf der Insel Frauenchiemsee. Auch als Steckerlfisch kommt der Brachsen durchaus in Frage.

Das Desinteresse an Brachsen als Speisefisch ist allerdings zumindest am Bodensee keine moderne Erscheinung, denn man konnte schon vor 170 Jahren in Franz Joseph Weizeneggers Buch "Vorarlberg" (Innsbruck 1839) lesen: "An dem See war ehemals Hard ein eigentliches Fischerdorf, als die strengen Fasten noch bestanden, und gegen 20 Klöser in Schwaben und der Schweiz mit der Ausbeute versehen wurden ... Die Seeforellen und der Hecht erreichen ein Gewicht von 12, 15 bis 20 Pfunde. Karpfen sind häufiger, sie werden in Bregenz, Feldkirch und in der Schweiz abgesetzt; noch ergiebiger sind die geringeren Fische, wie Braxmen, Alant oder Weißfische, die oft ihre Freiheit wieder erhalten, weil sie Niemand kauft, und die Fischer mit frischen und geräucherten Würsten aus deren Fleische nicht umgehen können oder wollen."