Esprit Montmartre

Nicht ohne Grund schrieb ein zeitgenössischer Kritiker in den 1890er-Jahren über den Montmartre in Paris: "Das Viertel ähnelt einem riesigen Atelier." Bedeutende Künstler wie Edgar Degas, Pablo Picasso, Henri de Toulouse-Lautrec oder Vincent van Gogh lebten und wirkten in dem Viertel. In einem bislang ungeahnten Realismus entwarfen sie einprägsame Bilder einer Zeit, die schonungslos die Kehrseiten der schillernden Belle Époque vor Augen führten. Mit diesen bis heute einzigartigen Arbeiten prägten sie die Kunstgeschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts maßgeblich.

Ab 7. Februar 2014 präsentiert die Schirn Kunsthalle Frankfurt nun erstmals mit über 200 Werken eine Gruppenausstellung, in deren Zentrum das Stadtviertel Montmartre mit seinen Geschichten und Protagonisten steht. Verschiedene Phänomene werden in inhaltlich gegliederten Sektionen untersucht: "Der Montmartre – ein dörfliches Paris" präsentiert stimmungsvolle Ansichten der Topografie des Ortes. Die Ausstellung zeigt die "Cafés, Absinthtrinker und Varietés" und beschreibt die Darstellung von "Modellen, Tänzerinnen und Prostituierten". Auch der "Traumwelt Zirkus" ist eine Sektion gewidmet. "Montmartre als Ort der Außenseiter und sozialer Veränderungen" stellt die Bevölkerung des Stadtteils vor, die Arbeiter, Bettler, Clochards und Wäscherinnen, aber auch jene, die in dieser politisch wie gesellschaftlich aufwühlenden Zeit demonstrierten. "Das Netzwerk der Künstler und Kunsthändler" verdeutlicht den gemeinsamen künstlerischen Austausch und das Erblühen des Handels im Viertel. Mit dem "Plakat als neue Kunstform" und den Illustrationen in Zeitschriften befasst sich die letzte Sektion.

Montmartre, benannt nach dem gleichnamigen Hügel, gehörte seit 1860 zum Stadtgebiet von Paris. Das Viertel bot eine kontrastreiche Gegenwelt zum mondänen Paris mit seinen von dem Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann radikal systematisierten Straßen, breiten Boulevards und großen Avenuen. Mit seinen stillgelegten Steinbrüchen, alten Mühlen, Gärten und brachliegenden Flächen sowie dem Elendsviertel, dem "Maquis", hatte es sich einen eher ländlichen Charakter bewahrt. Der Montmartre bildete den künstlerischen Nährboden für Maler gleichermaßen wie für Dichter, Literaten und Komponisten wie Paul Verlaine, Jacques Offenbach oder Erik Satie. Sie alle fanden dort billigen Wohnraum: So bewohnten viele von ihnen zusammen mit Schauspielern, Wäscherinnen und Näherinnen das wohl bekannteste Ateliergebäude, das Bateau-Lavoir. Die oftmals in den Bildern nicht nur zur Schau gestellte Armut war gleichsam Teil einer bohemehaften Selbststilisierung, die mit dem Bedürfnis nach individueller und künstlerischer Freiheit einherging. Im Viertel entdeckten die Künstler bildwürdige Themen und brachten durch ihren persönlichen Blick ungewohnte Sichtweisen in ihre Malerei.

Beginnend etwa um 1885 spannt die Präsentation den zeitlichen Bogen bis zum Ersten Weltkrieg, als die meisten Künstler auf den südlichen Montparnasse umzogen. Der Montmartre galt aber für viele Jahre als Mikrokosmos für ein künstlerisches Selbstbild, das mit Henry Murgers Roman "Scènes de la vie de Bohème" (1847–1849) einen zunächst literarischen Ausdruck fand. Er zog aber bald viele Künstlerinnen und Künstler an, die sich – obwohl oft aus großbürgerlichem Elternhaus stammend – bewusst für ein Leben als ärmliche Bohemiens am Rande der Gesellschaft entschieden. Dieses neue Selbstverständnis als freiwillig-unfreiwillige Außenseiter spiegelten sie besonders realistisch und eindrücklich in ihren Kunstwerken wider.

Die Ausstellung versammelt herausragende Gemälde und Arbeiten auf Papier, historische Fotografien, Plakate und Grafiken aus nationalen und internationalen Museen und Privatsammlungen, wie dem Musée d’Orsay in Paris, der Tate Gallery in London, dem Van Gogh Museum in Amsterdam, dem Kunsthaus Zürich, dem Museu Picasso in Barcelona und dem Museum of Modern Art in New York. Mit Werken von insgesamt 26 Künstlern wie Pierre Bonnard, Ramon Casas, Edgar Degas, Kees van Dongen, Vincent van Gogh, Max Jacob, Marie Laurencin, Pablo Picasso, Henri de Toulouse-Lautrec, Suzanne Valadon und weiteren, weniger bekannten, aber deshalb nicht weniger faszinierenden Künstlern wird die historisch einmalige Atmosphäre am Montmartre um 1900 erlebbar.

Katalog: "Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900 / Esprit Montmartre. Bohemian Life in Paris around 1900." Herausgegeben von Ingrid Pfeiffer und Max Hollein. Mit einem Vorwort von Max Hollein und Essays von Nienke Bakker, Markus A. Castor, Phillip D. Cate, Danièle Devynck, Anita Hopmans, Peter Kropmanns, Chloë Langlais, Vinyet Panyella, Robert McD. Parker und Ingrid Pfeiffer sowie Künstlerbiografien und einer historischen Karte mit Adressen von Ateliers, Vergnügungsorten, Galerien etc. von Michael Raeburn. Deutsche und englische Ausgabe, je 320 Seiten, ca. 320 farbige Abbildungen, 24 x 29 cm (Hochformat), Hardcover; Gestaltung: Kühle und Mozer, Köln; Hirmer Verlag, München, ISBN 978-3-7774-2196-4 (deutsch), ISBN 978-3-978-3-7774-2197-1 (englisch), ca. EUR 30 (Schirn), ca. EUR 49,90 (Buchhandel)

Esprit Montmartre
Die Bohème in Paris um 1900
7. Februar bis 1. Juni 2014