Als Kind hörte ich täglich die Nachrichten in Esperanto, obwohl ich die Sprache nicht verstand. Bei uns lief damals fast den ganzen Tag das Radio, und die Nachrichten wurden einmal am Tag nach der deutschen Version auf Englisch, Französisch und eben Esperanto gesendet. Das lag daran, dass Österreich Jahrzehnte lang ein wichtiges Land für die bekannteste Kunstsprache war.
Erfunden wurde sie von dem polyglotten Warschauer Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof (eigentlich Eliezer Levi Samenhof, 1859 – 1917), der in Białystok geboren wurde, einer zum Russischen Reich gehörenden polnischen Stadt, in der Polen, Weißrussen, Deutsche und Juden zusammenlebten. Die Juden sprachen Jiddisch im Alltag und Hebräisch in der Synagoge. Zuhause bei Zamenhofs wurde Russisch gesprochen, auf der Straße lernte der Junge Polnisch, in der Schule Französisch, Deutsch, Latein, Griechisch und Englisch. Der Vater Mordechaj oder Markus verstand sich als Russe und atheistischer Aufklärer, die Mutter war traditionell fromm und sprach Jiddisch. Ludwik Zamenhof war schon mit 15 von der Idee einer Weltsprache fasziniert, die ein neutrales, verbindendes Werkzeug für die zerstrittene Menschheit sein sollte. Er trat später auch für eine Weltreligion ein, den Homaranismo, aber die Anfänge waren profan. 1887 veröffentlichte Zamenhof eine 40-seitige Broschüre „Mezhdunarodny yazyk“ („Internationale Sprache“) unter dem Pseudonym Dr. Esperanto („der Hoffende), das alsbald als Name der neuen Kunstsprache populär wurde. Esperanto verbreitete sich in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg über das Russische Reich und Schweden bis nach Zentral- und Südeuropa. Am ersten weltweiten Esperanto-Kongress in Boulogne-sur-Mer 1905 beteiligten sich schon 700 Delegierte aus 20 Ländern.
In Österreich war es der Beamte der k. u. k. privilegierten Kaiser Ferdinands-Nordbahn Hugo Steiner (1878 – 1969), der 1912 auf dem 8. Esperanto-Weltkongress in Krakau Zamenhof persönlich kennen lernte, bald darauf in Korneuburg eine Esperantogruppe und ab 1923 die Zeitschrift „Aŭstria Esperantisto“ gründete. Ab 1924 stand er der Landesorganisation vor, die sich später Österreichischer Esperantobund nannte. In der Zwischenkriegszeit gab es Esperanto als Wahlfach an Schulen (ab 1925), Esperantokurse im Radio und in den Zeitungen und eigenen Unterricht für Bahn, Post, Polizei und Gendarmerie. Als der 19. Weltkongress 1927 in Danzig eine zentrale Esperanto-Bibliothek vorschlug, machte Steiner daraus das Internationale Esperantomuseum, eröffnet 1929 im Prunksaal der Nationalbibliothek, später in der Neuen Burg untergebracht. 1936 holte Steiner den 28. Weltkongress nach Wien.
Die Nationalsozialisten machten dem ein Ende. In dem Teil der Welt, den sie beherrschen wollten, würde von den Herrschenden ausschließlich Deutsch gesprochen und keine internationale Hilfssprache gebraucht werden, und Esperanto war für sie ohnehin eine „Judensprache“, von einem Ostjuden erdacht und in Österreich von einem assimilierten Juden propagiert. 1938 beschlagnahmten die Nazis das Vermögen des Wiener Esperantomuseums und schlossen es; Steiner wurde zwei Monate in „Schutzhaft“ genommen, aber wieder frei gelassen. 1947 konnte er dank Leopold Figl das Museum wieder eröffnen. Eine Reihe von sozialistischen Politikern hat sich für Esperanto engagiert. Franz Jonas redigierte ab 1926 die Zeitschrift „La Socialisto“, Bruno Kreisky hat 1973 Esperanto als Sendesprache beim Auslandsprogramm von Radio Wien angeordnet, die Eltern von Heinz Fischer haben sich in einem Esperantokurs kennengelernt. Die Schwarzen scheinen mit Ausnahme von Johann Schober auf der Gegenseite auf: Eine internationale Sprache brauchte weder Hilde Hawlicek, die als Unterrichtsministerin den Esperanto-Unterricht aus dem Lehrplan strich, noch Wolfgang Schüssel, der gleich das ganze Radio Österreich International abschaffte, so dass die letzte österreichische Esperanto-Sendung am 25. November 2002 ausgestrahlt wurde. Natürlich kann man mittlerweile Esperanto-Sendungen im Internet empfangen.
Warum ist Esperanto als Weltsprache gescheitert? Es hat zwar nur 16 grammatische Regeln, aber auch davon sind mehrere überflüssig. Zum Beispiel der Artikel. Im Esperanto gibt es nur einen, La, ein großer Vorteil gegenüber den drei deutschen, deren Zuordnung zum Geschlecht des Hauptwortes oft willkürlich und damit für Anderssprachige extrem schwer erlernbar ist. Aber braucht es überhaupt einen Artikel? Die Mehrzahl der Sprachen weltweit kommt ohne aus. Wenn man einen Esperanto-Text liest, kommen einem zu viele Wörter bekannt vor – für eine Weltsprache ist der Wortschatz eindeutig zu europäisch bestimmt. Und vor allem: es ist keine isolierende Sprache wie das Chinesische oder jenes simple Englisch, das weltweit gesprochen wird und mit der Muttersprache nur noch Wörter gemeinsam hat. Esperanto hat drei Zeiten: Präsens, Präteritum und Futur, drei Modi: Imperativ, Indikativ und Konjunktiv, und fünf Partizipialformen. Und es bildet komplexe Wörter mittels Präfixen und Suffixen. Das war gut gemeint, ist aber nicht gut.