Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und der Mythos Davos

Seit mehr als 150 Jahren ist Davos ein symbolischer Ort, ein Kristallisationspunkt europäischer Kulturgeschichte und politischer Entwicklungen. Nirgendwo sonst verdichten sich die Hoffnungen und Sehnsüchte, die Ängste und Bedrohungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in vergleichbarer Form.

Die Allgegenwart gesundheitlicher Gefahren schaffte damals wie heute ein Gefühl der Dauerkrise. Gleichzeitig nährt der medizinisch-technologische Fortschritt den Wunsch nach einem langen, gesunden Leben. Die Hochgebirgsluft versprach Heilung von der Infektionskrankheit Tuberkulose, die Jahr für Jahr zigtausend Menschen dahinraffte. Davos erkannte seine Chance und wandelte sich seit 1870 in kürzester Zeit vom abgelegenen Bergdorf zum international renommierten Lungenkurort.

Gleichzeitig begriff man das neue Potential des Sports und baute systematisch das bis heute gültige Image einer Wintersport-Destination auf. Davos gelang es immer wieder, sich neu zu erfinden. In Davos traf sich, was Rang und Namen hatte: Ernst Ludwig Kirchner, Katia und Thomas Mann, Arthur Conan Doyle aber auch Robert Louis Stevenson, Albert Einstein oder Else Lasker-Schüler. Die Ausstellung erzählt ihre Geschichten – die tragischen wie die erfolgreichen. Ernst Ludwig Kirchner kehrte der Metropole Berlin den Rücken, um für immer in Davos zu bleiben. Seine Bilder feiern die Alpenwelt als paradiesischen Ort des friedlichen Miteinanders. Thomas Manns Roman "Der Zauberberg" begreift Davos als Sinnbild für die Träume und die Katastrophen Europas.

Erstmalig ist Davos Thema einer so umfangreichen Ausstellung. Der Ort steht exemplarisch für die Komplexität und Zerrissenheit der Moderne und macht europäische Kulturgeschichte sichtbar. Die Ausstellung zieht die Verbindungslinien zwischen Medizin- und Kurgeschichte, Architektur, Wintersport, Kunst und Literatur, Philosophie und Politik. Sämtliche Schwerpunkte und Einzelaspekte werden in einem reich bebilderten Katalog vertieft und erweitert.

Die in der Ausstellung gezeigten Meisterwerke Ernst Ludwig Kirchners eröffnen einen neuen Blick auf das kulturelle Leben Europas zur Zeit der Jahrhundertwende sowie auf die Bedeutung Ernst Ludwig Kirchners Schaffen in seinen Davoser Jahren (1917-1938). Die Gegenüberstellung von Philipp Bauknechts Arbeiten ergänzen und schildern bedeutungsvoll eine idealisierte und realistische Bergwelt sowie zwei künstlerische Positionen, die in der gleichen Zeit in Davos tätig waren.

Weitere, zum Teil erstmals ausgestellte Leihgaben stammen aus dem Germanischen Nationalmuseum, dem Heimatmuseum Davos, dem Wintersportmuseum Davos, der Medizinhistorischen Sammlung Davos und der Dokumentationsbibliothek Davos. Die Tagebücher, Notizen und Fotografien aus dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich dokumentieren eindrucksvoll die Geschichte von Thomas Manns Roman "Der Zauberberg".

Ernst Ludwig Kirchner wurde am 6. Mai 1880 in Aschaffenburg geboren. Er studierte Architektur an der Technischen Hochschule Dresden. Zusammen mit Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl SchmidtRottluff gründete er 1905 die Künstlergruppe "Die Brücke". Die Künstlergruppe war wegweisend für den deutschen Expressionismus und gilt als Wegbereiter der klassischen Moderne. 1911 zieht Kirchner nach Berlin und erstellt den berühmten Zyklus der Strassenszenen.

Nach einem Nervenzusammenbruch im Militärdienst siedelt er 1917 nach Davos um. Die letzten 20 Lebensjahre bis zu seinem Freitod 1938 wohnt er in Davos. Zu den bekanntesten Werken dieser Schaffensperiode gehören die "Brücke bei Wiesen", "Davos im Sommer", "Reiterin" und "Bogenschützen".

Ernst Ludwig Kirchner zählt zu den bedeutendsten Vertretern des Expressionismus. Mit seiner avantgardistischen Lebenseinstellung und seinem befreiten Umgang mit Form und Farbe hat er die Kunst des frühen 20. Jahrhunderts revolutioniert.

Europa auf Kur. Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und der Mythos Davos
28. November 2021 bis 30. Oktober 2022