Emil Nolde. Retrospektive

Das Städel Museum widmet sich vom 5. März bis 15. Juni 2014 in einer umfangreichen Ausstellung dem Schaffen eines der bedeutendsten deutschen Expressionisten, Emil Nolde (1867–1956). Obwohl in zahlreichen thematischen Sonderausstellungen vertreten, wurde Noldes Werk in Deutschland seit 25 Jahren nicht mehr in einer Retrospektive gewürdigt. Zu sehen sind rund 140 Arbeiten, darunter Meisterwerke wie "Frühling im Zimmer" (1904), "Das Leben Christi" (1911/12) oder "Kerzentänzerinnen" (1912), aber auch einige bisher nicht außerhalb von Seebüll gezeigte Gemälde und Grafiken des Künstlers.

Die von der Nolde Stiftung Seebüll und vielen Leihgebern unterstützte Ausstellung ermöglicht auf der Basis neuer Forschungserkenntnisse einen Überblick über die Vielfalt von Noldes OEuvre. Die Werkauswahl reicht von expressionistischen Landschaften über rauschende Berliner Nachtszenen und exotische Südseemotive bis hin zu religiösen Darstellungen. Einer lockeren Chronologie folgend, umfasst die Retrospektive Gemälde, Aquarelle und Druckgrafiken aus allen Schaffensphasen des Künstlers. Noldes Früh- und Spätwerk, das in vergangenen Ausstellungen oft weniger Beachtung fand, kommt hier besondere Aufmerksamkeit zu. Es wird erkennbar, wie der Künstler mit verschiedenen Malweisen experimentierte, bevor er zu seinem charakteristischen Stil fand. Noldes aufgelöste und dynamische Malweise lässt die Konturen der dargestellten Figuren in den Hintergrund treten. Die vibrierenden Farben werden zum primären Ausdrucksmittel.

"Emil Nolde. Retrospektive" zeigt auf beiden Stockwerken des Ausstellungshauses in zwölf Kapiteln das Gesamtwerk des Künstlers in der ganzen Bandbreite seiner thematischen wie auch medialen Vielfalt: Die Ausstellung beginnt chronologisch mit dem Frühwerk Noldes. Sein erstes Gemälde, "Bergriesen" (1895–96) aus der Nolde Stiftung Seebüll, nimmt die anhaltende Begeisterung des Künstlers für das Fantastische und Groteske vorweg, das später immer wieder in seinem Werk auftaucht. Das Gemälde wird im ersten Raum der Ausstellung zusammen mit Arbeiten gezeigt, die sowohl den frühen Einfluss der dänischen Malerei auf Nolde als auch seine Anregung durch den französischen Impressionismus deutlich machen.

Der künstlerische Durchbruch gelang Nolde mit Blumen- und Gartenbildern, in denen er mit dem Potenzial der Farbe experimentiert. Diese bis heute für ihn als charakteristisch geltenden Motive sind im zweiten Raum der Schau zusammen mit zeitgleich entstandenen figürlichen Arbeiten zu sehen. Noldes figürliche Werke zeichnen sich durch eine eher flächige Malweise aus, wie das Hauptwerk "Freigeist" (1906) veranschaulicht. Im darauffolgenden Raum wird anhand der Serie Herbstmeere (1910) Noldes Annäherung an die Abstraktion thematisiert. Bis ins hohe Alter beschäftigt ihn das Motiv der wilden See. Die tosenden Wogen unter dramatischem Himmel entstehen auf der Ostseeinsel Alsen, in einem Bretterverschlag, den sich der Künstler direkt am Strand baute. In diesem "Atelier" fertigt Nolde ebenfalls einige seiner frühen biblischen und Legendenbilder, die im anschließenden Raum gezeigt werden.

Die religiösen Sujets gehören zu den Höhepunkten in seinem Gesamtwerk. Nolde setzt Szenen des Alten und Neuen Testaments, wie beispielsweise in "Grablegung" (1915), mit leuchtenden Farben und flächigem Farbauftrag um. Der nächste Raum ist allein dem bedeutenden Altarwerk "Das Leben Christi" (1911/12) gewidmet, das ausnahmsweise den eigens dafür eingerichteten Ausstellungsraum in Seebüll aus Anlass der Retrospektive verlassen darf. Nachdem die Nationalsozialisten den neunteiligen biblischen Zyklus aus dem Museum Folkwang in Essen beschlagnahmt hatten, wurde Noldes Hauptwerk prominent im ersten Saal der Münchener Femeschau "Entartete Kunst" ausgestellt.

Noldes religiösen Bildern folgen seine Beobachtungen aus Berlin. Dort verbringt er ab 1905 die Hälfte des Jahres. Meisterwerke des deutschen Expressionismus wie "Im Café" (1911) aus dem Essener Museum Folkwang oder "Tänzerin in rotem Kleid" (1910) aus der Kunsthalle Emden porträtieren das bunte Nachtleben der Metropole. Erstmals werden diese Arbeiten gemeinsam mit Noldes politischen und sozialkritischen Gemälden, wie "Soldaten" (1913) oder "Schlachtfeld" (1913), präsentiert. In Berlin beginnt auch Noldes Interesse an außereuropäischer Formgebung und Kunst, das im nachfolgenden Raum thematisiert wird. Das Gemälde "Exotische Figuren" (Fetische I) (1911) basiert auf Zeichnungen, die Nolde bei Besuchen im Königlichen Museum für Völkerkunde nach Exponaten anfertigt.

Den Auftakt im Obergeschoss des Ausstellungshauses machen die Werke, die während und im Anschluss an Noldes Teilnahme an einer Expedition des Reichskolonialamtes nach Neuguinea entstehen. Im glühenden Kolorit der "Tropensonne" (1914) aus der Sammlung der Nolde Stiftung Seebüll manifestiert sich Noldes Sehnsucht nach einem von der westlichen Zivilisation unberührten Naturidyll. An das Kapitel der Südsee schließt sich die Präsentation von Noldes Werken aus den Jahren 1915 bis 1932 an. Der Künstler konzentriert sich während dieser Zeit auf die Sujets seiner nordschleswigschen Heimat: Dort porträtiert er die unbändige Naturgewalt des Meeres sowie die von ihm angelegten Blumengärten, die er in Werken wie "Schwüler Abend" (1930) mit der rauen nordischen Landschaft konfrontiert. Zudem entstehen in reicher Fülle variantenreiche und farbenfrohe Blumenaquarelle. Mit insgesamt 20 dicht an dicht gehängten Blättern breitet die Ausstellung einen leuchtenden Farbenteppich aus.

Neben Blumenbildern interessiert sich Nolde in dieser Zeit vor allem für fantastische Motive, die wie "Meerweib" (1922) den Einfluss Arnold Böcklins verdeutlichen. Zu dieser Werkgruppe grotesker Sujets zählt auch das Aquarell "Tier und Weib" (1931–1935) aus der Serie der Phantasien, das zu den unter der Bezeichnung "Ungemalte Bilder" bekannt gewordenen Aquarellen überleitet. Diese außergewöhnlichen Aquarelle fertigt Nolde ab 1938 in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. 1941 wird dem Künstler ein umfassendes Berufsverbot erteilt: Er darf seine Werke nicht mehr der Öffentlichkeit präsentieren oder verkaufen. Bereits 1938 beginnt er, ausgewählte Arbeiten aus der Serie der "Ungemalten Bilder" in Öl zu übertragen. Einer Auswahl dieser Gemälde ist der nächste Raum gewidmet. Bis heute sind einige dieser Gemälde, die auf den "Ungemalten Bildern" basieren, noch nicht öffentlich präsentiert worden, dazu zählt auch "Frühling im Herbst" (1940).

Der Chronologie folgend, endet die Ausstellung mit der letzten Lebensphase Noldes von 1946 bis 1956. In seinem Spätwerk spielen ausdrucksstarke Natur- und Landschaftsdarstellungen eine entscheidende Rolle: Den Endpunkt der Retrospektive bildet "Bewegtes Meer" (1948) aus der Kunsthalle zu Kiel.

Emil Nolde wird am 7. August 1867 im Dorf Nolde nahe der deutsch-dänischen Grenze als Hans Emil Hansen geboren. Nach der Volksschule absolviert er eine Lehre als Holzbildhauer, parallel dazu nimmt er Unterricht in gewerblichem Zeichnen. Ab 1892 ist Nolde Fachlehrer für farbliches und ornamentales Zeichnen am Industrie und Gewerbemuseum in St. Gallen. Durch den großen kommerziellen Erfolg seiner Bergpostkarten ist es ihm möglich, 1897 als freier Maler nach München zu gehen. In den folgenden Jahren bis 1902 nimmt Nolde an unterschiedlichen privaten Kunstschulen in München, Paris und Kopenhagen Unterricht und macht Bekanntschaft mit skandinavischen Künstlern.

1902 heiratet er die dänische Schauspielerin Ada Vilstrup. Mit der Heirat legt er seinen Geburtsnamen ab und nennt sich nach seinem Heimatort Nolde. 1903 entsteht Noldes erstes Gartenbild, ab 1906 widmet er sich verstärkt diesem Sujet. Das Ehepaar zieht 1903 auf die Ostseeinsel Alsen, ab 1905 verbringt es die Hälfte des Jahres zumeist in Berlin. 1906 wird Nolde für achtzehn Monate Mitglied der Künstlergruppe "Brücke". 1908 tritt er der Berliner Secession bei, aus der er wegen Unstimmigkeiten mit Max Liebermann allerdings 1910 ausgeschlossen wird. Ab 1912 finden Noldes Arbeiten deutschlandweit großen Anklang. Überall sind Ausstellungen seiner Werke zu sehen, die regelmäßig vom Feuilleton besprochen werden. Bis zum Ende der 1920er-Jahre halten seine Arbeiten Einzug in die Sammlungen von 21 Museen. Nach der Teilnahme an einer "Medizinisch-demografischen Deutsch-Neuguinea-Expedition" des Reichskolonialamtes im Jahr 1913 findet die Motivik der Südsee Eingang in sein Werk. Ab 1923 werden seine Werke auch international beachtet.

Durch die "Machtergreifung" der Nationalsozialisten erfährt das Schaffen Emil Noldes eine Zäsur. Seine Frau und er begrüßen voller Hoffnung den politischen Wechsel und stellen bereits 1933 einen Antrag zur Aufnahme in den völkischen "Kampfbund für deutsche Kultur", der jedoch abgelehnt wird. Ein Jahr später tritt Nolde in die Nationalsozialistische Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig (NSAN) ein, die später zu den Gründungsparteien der Nationalsozialistischen Partei in Nordschleswig (NSDAPN) gehört. Aus dieser Zeit existieren zahlreiche Briefe und Dokumente, die seinen Wunsch nach Teilhabe dokumentieren. Mit diesen Bemühungen kann er sich jedoch nicht durchsetzen. 1937 werden 1102 seiner Werke aus öffentlichen Sammlungen beschlagnahmt, 47 Arbeiten, darunter 33 Gemälde, werden in der Ausstellung "Entartete Kunst" in München gezeigt.

1941 schließt man den Künstler schließlich aus der Reichskammer der bildenden Künste aus. Ihm wird ein Berufsverbot auferlegt. Zwischen 1938 und 1945 entsteht die Werkgruppe der "Ungemalten Bilder", Aquarelle, die er ab 1938 in Öl überträgt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden Nolde zahlreiche Ehrungen wie beispielsweise die Verleihung des Grafik-Preises der XXV. Biennale in Venedig zuteil. 1956 stirbt Nolde im Alter von 88 Jahren.

Katalog: Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog, herausgegeben von Felix Krämer. Mit einem Vorwort von Max Hollein, Essays von Christian Ring, Aya Soika, Bernhard Fulda und Felix Krämer sowie Beiträgen von Caroline Dieterich, Chantal Eschenfelder, Katharina Ferus, Felicity Grobien, Isgard Kracht, Franziska Leuthäußer und Brigitte Sahler. Prestel Verlag, 300 Seiten, deutsche Ausgabe 39,90 Euro, englische Ausgabe 44,90 Euro.

Emil Nolde. Retrospektive
5. März bis 15. Juni 2014