Eisenbeton - Anatomie einer Metropole

Im Fokus der Ausstellung im Wien Museum steht nicht das glanzvolle äußere Bild des „Wien um 1900”, sondern die innere Struktur der Stadt, die als Gerüst für ein modernes urbanes Leben diente. Eine bahnbrechende Technologie, der Eisenbeton, erleichterte ab den 1890er-Jahren nicht nur den Bau einer leistungsfähigen Infrastruktur – Wasserleitungen, Kanalisation, Stadtbahn – sondern führte auch zur Entstehung multifunktionaler Bauten, in denen Theater, Varietés und Kinos, Cafés, Büros und Wohnungen nebeneinander und übereinander Platz fanden. Es war ein aufregendes Miteinander von Großstadtkultur, neuen Medien und innovativer Bautechnik. Mit dem Ersten Weltkrieg fand der kulturelle, gesellschaftliche und technische Entwicklungsschub ein abruptes Ende.

Das Wort „Beton” erweckt heute keine positiven Assoziationen. Vor 130 Jahren war das anders. Der Eisenbeton (heute Stahlbeton) trat als bahnbrechende neue Bautechnik einen Siegeszug über die ganze Welt an. Die Entstehung moderner Großstädte mit ihren multifunktionalen Gebäuden und komplexen infrastrukturellen Systemen basiert auf Konstruktionen aus Eisenbeton.

Auch in Wien setzte sich der Eisenbeton damals durch – von den Gewölben des Wienflusses und den Decken der Stadtbahn über Fabriken bis zu hoch aufragenden, flexibel nutzbaren Wohn- und Geschäftshäusern.

Beton und Eisen werden seit Jahrtausenden zum Bauen verwendet. Aber erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang es, diese Materialien als Eisenbeton schlüssig miteinander zu verbinden und für den Hoch- und Tiefbau einzusetzen. Durch die Kombination der Druckfestigkeit des Betons mit der Zugfestigkeit des Eisens wurden völlig neue konstruktive Möglichkeiten geschaffen.

Die Architekten sahen sich zu Beginn mit großen gestalterischen Herausforderungen konfrontiert, die sich aus den materiellen Eigenschaften und konstruktiven Möglichkeiten des Eisenbetons ergaben. Die unregelmäßig dichte, an Stein erinnernde Oberflächenstruktur machte eine aufwendige Nachbearbeitung oder Verkleidung notwendig und die Skelettstruktur stellte das Konzept der Wand als tragendes Element und räumliche Begrenzung infrage. Jahrhundertelang eingeübte Denkmuster im Bauen standen plötzlich auf dem Prüfstand: Das Verhältnis von Kern und Hülle, also von Konstruktion und Fassade, wurde neu verhandelt. Säule und Architrav verwandelten sich in Pfeiler und Unterzug.

Zu den Ersten, die sich um 1900 der ästhetischen Potenziale des Eisenbetons in vollem Umfang bedienten, zählten Architekten aus dem Umkreis Otto Wagners. Der Eisenbeton animierte sie zu einem neuen, „konstruktivistischen” Bauen. Seine Ästhetik wurde nicht mehr am Schmuck der Fassade festgemacht, sondern aus der inneren Struktur heraus entwickelt. Auch die Wirkung der Oberfläche konnte durch unterschiedliche Materialkörnung und Schalung verstärkt werden. Der Eisenbeton ermöglichte sowohl eine Rückkehr zur archaischen Schwere als auch eine leichte, durchsichtige Architektur der Zukunft.

Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war das Bauen mit Eisenbeton in Wien zur Norm geworden. Es umfasste alles – von den luxuriösen Einkaufstempeln im Stadtzentrum über die Versammlungsorte der Arbeiterbewegung bis hin zu den Fabriken in den Randbezirken. Der Zusammenbruch der Monarchie und die wirtschaftliche Not der Nachkriegszeit bereiteten dieser Pionierphase der neuen Bautechnologie jedoch ein Ende.

Zur selben Zeit wurde Beton zum symbolträchtigen Material der internationalen Architekturavantgarde und zum Formgeber einer neuen „funktionalistischen” Ästhetik. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Beton schließlich zum Namensgeber des „Brutalismus”: Die unter diesem Label versammelten Bauten setzten auf die plastische Erscheinung und Oberflächenwirkung des Sichtbetons („béton brut”). Damit antworteten sie auf die Monotonie und Ausdruckslosigkeit, die sich in der Architektur der Moderne breitgemacht hatten.

Eisenbeton
Anatomie einer Metropole
22. Mai bis 28. September 2025