Einmaliges. Vielmaliges.

Gehören Sie auch zu jenen, die mehr als eine Zeitung lesen und nicht nur oberflächlich überfliegen? Für die es "normal" ist, mehrere Bücher nebeneinander zu lesen und nicht nacheinander? Dann geniessen Sie sicher auch das Vergnügen oder die lustvolle Spannung, bei gewissen Stellen sofort Verbindungen (heute nennt man das "Querverbindungen", so, wie eigenes als "anderes" Denken "Querdenken" heisst) herzustellen und das komplexe geistige Gebäude gleich um einige Geschosse zu erweitern, vertiefen und erhöhen, mit Stiegen und Treppen versehen, Balkonen und Pawlatschen, Terrassen, Garagen und Hallen, ganz, wie es der Moment des Denkens bedarf.

Ich versuche, einen kleinen, kurzen Ausschnitt so einer alltäglichen Begebenheit herauszuheben und nachzuzeichnen.

Ich lege das 500-Seiten starke Buch "The God Delusion" von Richard Dawkins zurück. Ein Bekannter hatte es mir kürzlich als Geschenk gesandt. Der englische Biologe gilt als prominentester, zumindest bekanntester Atheist. Stellenweise beeindruckte er mich, wenn ich auch in einigen Argumentationszügen ihm nicht folge. Nicht hinsichtlich Atheismus oder Theismus. Da geh ich völlig überein: Auch ich bin Atheist. Es gibt keinen Gott. Punkt. Kein wenn und aber. Aber er holt Beispiele bzw. führt aus wie jemand, der seinen Lesern oft nicht viel zutraut. Fast meinte ich anfänglich, einen amerikanischen Autor zu lesen, weil viele von denen in ihren gelehrten Ausführungen sozusagen Bildungsgut mitverfrachten (müssen) um antizipierte Lücken und Manki auch beim gebildeten Publikum zu füllen oder zu überbrücken. Vieles, was er hervorhob, schien mir nicht in der Weise hervorhebenswert, andererseits wiederholte er für mich vieles, das ich von alten Autoren schärfer formuliert schon kannte. Das Neue lag eigentlich nur in seiner Kompetenz als Naturwissenschaftler, nicht aber als Filosof.

Auf meinem Tisch liegt auch der hochinteressante Wälzer "Europa – Mutter der Revolutionen" von Friedrich Heer, dem streitbaren österreichischen Katholiken, der mich immer verwundert hat, wieso er als so gescheiter, hoch gebildeter Mensch zugleich katholisch sein konnte oder wollte. Und der zweite Band der Parerga und Paralipomena von Arthur Schopenhauer, wo ich mit Genuss einige Kapitel wieder aufsuchte: über Religion, Schriftstellerei, Lesen, Sprache. (Dass ich bei deren Lektüre wieder und wieder mich an andere, benachbarte Autoren und Textstellen erinnere, ist klar und würzt die Lektüre, besonders, wenn Bilder und Sätze auftauchen vom Heiden Goethe, vom zornigen Nietzsche, von Engels und Marx, aber auch "jüngeren" wie Freud, Adorno oder Rorty.)

Der gescheite Dawkins kennt wahrscheinlich den Denkhintergrund Schopenhauer – Nietzsche kaum oder vermeidet wohlweislich Anklänge oder gar Verweise. Heer kennt sie zur Genüge. Aber der gescheite Heer folgt am Ende doch einem Ordnungsdenken, das sich der Schöpfungsidee bzw. ihrer Vertretung als Ordnungsfaktor für Gesittetheit unterordnet. Plausibel. Aber dennoch ein Quäntchen unter dem, was ein Freigeist forderte: Emanzipation. Nicht dass er sklavisch, spiessig sich eingefügt hätte. Er war widerstreitend, fordernd, human. Aber das Entscheidende hat er anerkannt: die grosse Ordnung, die Organisation. Der Naturwissenschaftler anerkennt Ordnung, ganz klar, aber keinen Ordner, keinen Gott. Für mich auch ganz klar. Den meisten allerdings nicht. Da wird"s politisch. Die Debatten zeigen es. An ihnen lässt sich, so nebenbei, der tiefe Niveauunterschied zu den Moslems, den islamischen Gesellschaften erkennen: das Fehlen einer Aufklärung, wie Europa sie schuf und "durchmachte", bedingt wesentlich ihre kulturelle Niedergehaltenheit, ihre rabiate brachiale Art von Primitivheit, die jeder religiösen Fanatisiererei eigen ist. Das wird nicht nur politisch, das ist ein Politikum.

In einer kleinen Runde von Lehrern sprach ich kürzlich über Bildung und Lesen. Deshalb hatte ich wieder einige Aufsätze aus einigen Büchern von George Steiner hervorgeholt, weil er als Nichtwissenschaftler, aber als hochgewichtiger Kultur- und Literaturtheoretiker Bedeutsames formuliert hat. Besonders die Aufsätze im Kapitel "Humane literacy" in seiner Anthologie "Langauge & Silence". Mein Wertschätzung wird nicht gemindert, wenn ich mich zugleich vehement gegen seine inplausible, für mich völlig falsche, untragbare Sprachauffassung wende, die er in seinem Essay "The Hollow Miracle" (1959) äussert, deren verwegenste Positionen er später allerdings zurücknahm (weil nicht haltbar!).

Ein paar Tage später lese ich einen Artikel der amerikanischen Forscherin Prof. Maryanne Wolf, die an der Tufts University im Child Development Department Leseforschung betreibt. In "Socrates" nightmare" (Boston Globe, 6.9.07) führt sie aus, weshalb die primäre Fokussierung auf elektronische Medien nicht genügt, weshalb hohe Lesefähigkeit wichtig für die Hirn- und Denkentwicklung ist. Eine empirische, wissenschaftliche Erklärung ergänzt sofort die kulturtheoretischen Überlegungen, wie ich sie von Steiner und anderen kenne. Boing.

Geübte Leser kleben nicht am Text. Sie gehen weiter. Denkend. Sie finden die Zeit, weil sie das Vermögen haben, durch den Text über den Text hinaus selbst zu denken. Darum geht es. Alles andere wäre nur Entziffern, Dekodieren. Gerade darin liegt der Unterschied von Informationsverarbeitung und Wissen. Ein wesentliches Problem unserer Unbildungsgesellschaft.

Einen Tag darauf lese ich eine kurze "Kritik der neuesten pädagogischen Diskurse" (Wieland Elfferding im Freitag 36) und finde nicht nur eine Ergänzung, sondern Erweiterung des Problemfeldes und seines Bedenkens. Nach der wissenschaftlichen Beobachtung hier einige politische Gedanken und Schlussfolgerungen, nicht zuletzt in ihrer Blossstellung des modischen Begriffs "Kompetenz".

In der gleichen Zeitung lese ich auch eine Kritik über "Schlingensiefs Bonner Opernverweigerung" (von Hans-Christoph Zimmermann), worin mir ein Satz besonders ins Auge sticht (ja, es schmerzt, nicht der Satz, sondern das, was er aussagt): "Letztlich geht es um Verabschiedung der Interpretation als Kategorie der Werk-Erkenntnis im Theater. Das Werk wird "nur" noch als Ready made oder als Materialbaustelle begriffen".

Schlingensief, der für mich schon lange der typische Parasit und geistige Leichenfledderer ist, der schlimmer und deutlicher als viele Kollegen die Unkultiviertheit egoistischer Nichtkönner verkörpert, wird hier ganz kurz aber treffend als Buchhalter, Registrateur, als Installateur und Schausteller skizziert, der auf Kosten anderer glänzt. Ein Kind der Zeit, wie jene sagen, die Kinder nicht kennen und die Zeit auch nicht.

Interpretation. Werktreue. Letzteres ist aus dem Vokabular und dem Denkbereich jener, die als Vertreter des Regietheaters verschrien sind, gestrichen. Ein Beleg von niedergekommener Kunst und Kultur. Etwas, das zu desaströsen Resultaten führte, würde es in anderen Bereichen als denen des Theaters gepflegt werden. Die Gefahr, dass diese Art schnoddrige, rotzige Ungebildetheit "Schule" macht, ist gross und virulent.

Das Gegenüber gibt es, besonders im Bereich der Übersetzung. Dort wird zwar auch oft geflunkert, aber im Wesentlichen besteht Einhelligkeit in der Aufgabe des Übertragens. In der Wertschätzung der Interpretation. Ich erinnere mich der elektrisierend spannenden Anthologie "Zur Literatur und Kultur Polens" von Karl Dedecius, einem Meister seines Fachs, schier ohnegleichen, der nicht nur als Übersetzer beeindruckt, sondern auch als Denker und Autor. Es ist kein Zufall, dass ich bei ihm Sätze über Lesen finde, die in die geistige Landschaft von George Steiner passen, die die weite Welt von Hafis und Goethe hereinholen, Hieronymus (der für ihn der Urübersetzer ist) und die deutschen Aufklärer, die Franzosen und Russen und, und, es lässt sich gar nicht niederschreiben in der Kürze, die hier zur Verfügung steht.

Bei ihm, wie übrigens auch bei dem polyglotten George Steiner, dessen "After Babel" ein interessantes Werk zu Sprachen und Übersetzungen ist, worin sich viele ähnliche Gedanken finden, wie bei Dedecius, wird "Fremdheit" nicht negativ konnotiert, wird "Grenze" nicht zugunsten illusionistischer Grenzenlosigkeit weggeredet, sondern wird die Komplexität und Vielfalt verschiedener Kulturen und Sprachen erkundet und "übersetzt", übertragen, verbunden. Das Vielmalige im Einmaligen. Das Eigene im Ganzen. Das Ganze nicht ganz, aber ahnbar in seiner vielschichtigen Komplexität.

Werktreue ist Ausdruck von Respekt und Würde. Sie verhindert nicht Interpretation. Nur Unkundige befürchten sklavisches Schablonendenken. Karl Dedecius hat in einem Satz die Kehrseite "falschen" Übersetzens klar herausgekehrt. Nicht zufällig klingt das Ideologische, Politische an, das wir vom Missionieren und Kolonisieren kennen (mit ein Grund, weshalb mir Typen wie Schlingensief als "Räuber" so widerlich sind):

"Der Unsinn (...) ist jetzt wie stets der Missbrauch, der die eigene Kraft überschätzt, der übersetzt, um zu überschreiten, um durch Gewaltanwendung Besitz zu ergreifen, um das Fremde an sich zu reißen, es mit dem eigenen Gewicht zu erdrücken, gleichzuschalten, ihm das Eigenleben zu nehmen, alles so sehen, sprechen und leben zu lassen, wie wir es wollen, nicht wie es selber will ..."