Die "moderne" Architektur wurde Ende des 19. Jahrhunderts in China eingeführt und ersetzte nach und nach traditionelle Bauweisen. Mit der Rückkehr chinesischer Architekt:innen, die ab den 1920er Jahren in Japan, Europa und den USA studiert hatten, entwickelten sich Architektur und Bauingenieurwesen zu eigenständigen Disziplinen. Infolgedessen begannen verschiedene Institutionen, Kurse über chinesische und westliche Architekturgeschichte anzubieten. 1952 wurde die Tongji-Universität im neuen China in eine Technische Hochschule umstrukturiert und ein eigenständiger Fachbereich Architektur eingerichtet. Dazu gehörte auch ein Fachbereich für Geschichte (und Theorie) der Architektur.
Innerhalb dieser Abteilung wurde ein kleines Team unter der Leitung von Luo Xiaowei zusammengestellt, das sich auf die Architekturgeschichte "westlicher" und anderer ausländischer Länder konzentrierte. Diese Gruppe entwickelte eine Reihe von Lehrbüchern und internen Referenzmaterialien, die darauf abzielten, architektonische Narrative innerhalb eines marxistischen und maoistischen Rahmens zu rekonstruieren. Das Material behandelte nicht nur die antike und klassische Architekturgeschichte, sondern auch die moderne Architektur, die aus marxistischer Sicht kritisch betrachtet wurde. In den 1950er bis 1970er Jahren, unter dem Einfluss der "Drei Revolutionen" und sogar innerhalb der radikalen Organisationsform der "7. Mai"-Kommune an der Tongji-Universität, widmete sich diese Gruppe der Anwendung der radikalen Pädagogik auf die Architekturgeschichte und -theorie. Daraus entstand unter anderem das nationale Lehrbuch " Moderne Architekturgeschichte ausländischer Länder" (1982), das von der Tongji-Universität gemeinsam mit drei weiteren Universitäten herausgegeben wurde und lange Zeit die Lehre der modernen Architekturgeschichte in China prägte.
Chinesische Dozenten waren für ihre Forschungen zur ausländischen Architekturgeschichte auf westliche Publikationen angewiesen. Sigfried Giedions "Space, Time and Architecture" wurde als Reaktion auf die chinesische Begeisterung für moderne Architektur zu einer zentralen Quelle für die Analyse der modernen Architekturbewegung, insbesondere in den kapitalistischen Ländern. Viele von Giedions Illustrationen wurden in verschiedenen Lehrbüchern der Tongji-Universität verwendet. Je nach den Veröffentlichungsbedingungen in den verschiedenen Perioden variierten diese Darstellungen und wurden in ein idealistisches pädagogisches Modell integriert, das eine "bildliche" Architekturgeschichte betonte.
Ein chinesisches Sprichwort sagt: "Wenn man einen Leoparden durch ein Rohr betrachtet, sieht man nur einen Fleck". Die Auseinandersetzung mit Giedions Schriften zur modernen Architekturgeschichte gleicht einem Blick durch sein "Rohr" auf die westliche Kunst. Die Lehrbücher der Tongji-Universität sammelten, synthetisierten und rekonstruierten diese "Flecken" zusammen mit anderen Flecken. Dieser Prozess war nicht nur Teil einer langen Tradition der Sammlung und des Transfers von Wissen zwischen Kulturen, sondern diente auch der Etablierung eines neuen akademischen Fachbereichs in China.
Die neu zusammengesetzten "Flecken" schimmerten durch die "Röhren" der Forschungsabteilung, indem sie pragmatisch antikes Wissen aufnahmen, eine ambivalente Haltung gegenüber der Moderne einnahmen und eine panoramische Sicht auf die Weltarchitektur anstrebten. Auch die Ausstellung selbst fungiert als ein solches "Rohr" - sie gibt Einblick in den Prozess des Wissenstransfers und der Wissenstransformation zwischen Ost und West.
Die Lehrbücher, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an der Tongji-Universität entstanden, waren wie kleine Steine, die in den Teich des Denkens geworfen wurden. Sie zeigten eine direkte Verbindung zwischen architekturhistorischen und theoretischen Studien und der praktischen Umsetzung. Die Arbeiten befassten sich mit Organisationsstrukturen, der (Re-)Produktion historischer Materialien, radikaler Pädagogik, dem Einfluss visueller Medien, industrieller und architektonischer Produktion, Arbeit, Kolonialismus, Umweltfragen und Ressourcen. Trotz erheblicher politischer Hürden im schweizerisch-chinesischen Wissensaustausch und kulturellen Einfluss sind diese nicht vollständig untergraben worden. Angesichts der aktuellen Krisen in den Bereichen Umwelt, Energie, Wirtschaft, Politik und Architektur hoffen wir, dass diese Steine der Vergangenheit auch heute noch Wellen schlagen.
Visualizing Sigfried Giedion’s Modernism in Chinese Book Culture 1952–1982
bis 4. April 2025