Neun Uraufführungen von Minidramen zu den fünf Sinnen aktivieren als Literaturtheater mit Schauspielenden, Stab- und Klappmaulpuppen, Objekttheater, Papierfiguren und dem vielschichtig ausgebreiteten Klangteppich des Musikers gleichermaßen alle Sinne des dadurch inspirierten Publikums. Das Kabinetttheater in einem Hinterhof im Wiener Alsergrund ist ein besonderer Ort. Lange Zeit war der Theaterraum auch die Wohnung seiner Prinzipalin Julia Reichert. Im Oktober letzten Jahres ist die Puppenspielerin und Objektkünstlerin nach schwerer Krankheit verstorben. Jetzt wird die Bühne von einem vierköpfigen Leitungsteam, das auch schon davor eng mit dem Haus verbunden war, in ihrem Sinne weitergeführt. Nach wie vor trifft man sich nach den Aufführungen im Wohnzimmer-Teil bei Wein, Wasser und Schnittlauchbrot. Zum Loft in der ehemaligen Fabrikanlage gehört eine „Naturnahe Grünoase“, für die Julia Reichert 2009 die gleichnamige Auszeichnung der Stadt Wien erhielt.
„Was geschieht, wenn Sprache und Sinnlichkeit auseinanderfallen? Was geschieht mit unserer Sinnlichkeit, wenn wir mehr und mehr der unmittelbaren Sinneserfahrung entbehren müssen?“ fragt sich Alexandra Millner, die mit Christian Pfütze die Minidramen inszenierte. „Durch die Gefährdung unserer Sinne in einer zunehmend medialisierten Welt wird die aktive und direkte Sinneswahrnehmung zugunsten einer passiven, technisch-vermittelten, beschleunigten Wahrnehmungsform zurückgedrängt. Unsere Sinne werden darauf reduziert, aus den medialen Daten eine subjektive Realität zu konstruieren, die wir nicht mehr selbst erfahren. Wie wirkt sich das auf individuelle zwischenmenschliche Begegnungen aus, und wie auf das gesellschaftliche Ganze?“
Das Kabinetttheater schrieb zum Thema der „Fünf Sinne“ einen Minidramenwettbewerb aus. Aus 73 Einsendungen wurden wieder fünf Siegertexte* ausgewählt. Kriterium war natürlich auch die Umsetzbarkeit auf der räumlich beschränkten Bühne. Unterschiedlichste Minidramen entstanden, die von der Identität als Bündel von Wahrnehmungen über die Hinterfragung, Subjektivität und Wertung von Sinneswahrnehmungen bis hin zum Verhältnis von Sinn und Sinnen reichen.
In Markus Köhles „Die Gehörgang“ personifizieren sich Augen, Mund und Nase als bunte, fleischfressende Pflanzen und sagen: „Ich bin nicht auf die Ohren gefallen, vielmehr auf die Füße“, oder "Ich hab' das alles klar vor Ohren". Es tauchen der Kopf von Katarina Csanyiova oder Walter Kukla in irrwitziger Interaktion mit Nase und Zunge auf. Bei Sonali Beher kommt eine Frau, die Angst vor Geschmacksverlust hat, zur strengen Ärztin, die vielen Fragen bei „Mensch mit Kopf“ entfalten sich als immer dichter werdender Strauß. Das ist große Kunst von Roman Spieß, der für Bühne und Figuren verantwortlich zeichnet.
Gar nicht so absurd, sondern denkwürdig ist Dietmar Füssels Minidrama „Telefonat“. Ring-ring. Auf der einen Seite Christian Pfütze mit Mini-Telefon, auf der anderen Kasperl, der locker-lässig von Ohrmuschel zu Sprechteil seines Riesenhörers klettert. Wer hat wen angerufen und hört nicht zu, aber was wurde denn eigentlich gesagt …? Die Verzweiflung des einen und das Lustig-machen des anderen wird aufgeladen und immer deutlicher durch den Soundteppich des Multi-Instrumentalisten Paul Skrepek. Herrlich!
Den Rahmen bilden ein Minidrama des großen Gerhard Rühm, das sich experimentell mit den Transpositionen der Sinneswahrnehmungen auseinandersetzt, und eine surrealistische minidramatische Setzung von David Rühm, seinen Sohn. Die Texte aus den 1930er Jahren von Gennadij Gor und Daniil Charms sind verklausulierte kritische Kommentare zu den Auswirkungen des Sowjetregimes auf das individuelle Leben.
Und zum Ende fällt kaum ein Wort mehr. Die Uhr tickt. Zwei Pappfiguren sitzen am Küchentisch. Ingrid Lang beschreibt in „sinnlos“ das triste Eheleben. Es eskaliert unbemerkt von draußen her, die Wanduhr gibt mit Kurzschluss auf. Es lodert und raucht, Mann und Frau rühren sich nicht. Tosender Applaus. Was für ein dichter, inspirierender Abend!
Wahn & Sinne
9 Uraufführungen von Minidramen
im Kabinetttheater, Porzellangasse 49, 1090 Wien
Spiel: Katarina Csanyiova, Walter Kukla, Chriscan Pfütze
Musik: Paul Skrepek
Bühne / Figuren: Roman Spieß
Dramaturgie: Alexandra Millner, Julia Reichert
Regie: Alexandra Millner, Chriscan Pfütze
1) Gerhard Rühm: augenblickliche finsternisse (1975)
2) Markus Köhle: Die Gehörgang (2024)*
3) Sonali Beher: Mensch mit Kopf (2024)*
4) Daniil Charms: Eines Morgens betrachtete sich ein Mensch (1934)
5) Natascha Gangl: Im Theater (2024)*
6) Dietmar Füssel: Telefonat (2024)*
7) Ingrid Lang: sinnlos (2024)*
8) David Rühm: Der Selbstfresser (1980)
9) als Intermezzo: Gennadij Gor: Das Ohr (Manja) (1938)