Ein Star mit vielen Gesichtern: Sandrine Bonnaire

10. März 2014 Walter Gasperi
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Erst 47 Jahre ist Sandrine Bonnaire alt, doch lang ist die Liste der großen Filme, in denen sie gespielt hat. Mit den meisten wichtigen französischen Filmregisseuren hat sie schon gearbeitet, lässt sich aber nicht auf eine bestimmte Rolle festnageln. Das St. Galler Kinok widmet der Französin im März und April eine Filmreihe.

Eine Karriere als Schauspielerin war Sandrine Bonnaire alles andere als in die Wiege gelegt. Als siebtes von elf Kindern einer Arbeiterfamilie wurde sie am 31. Mai 1967 bei Clermont-Ferrand geboren. In der Schule war sie schlecht, sodass für sie nach eigener Aussage die Wahl zwischen dem Job als Friseuse oder Floristin blieb.

Doch dann besorgte ihr eine Klassenkameradin, deren Vater die Statisten für "La Boum 2" (1982) anheuerte, die erste kleine Rolle. 350 Francs bekam sie dafür pro Tag. Im folgenden Jahr begleitete die 15-Jährige im Grunde nur ihre Schwester Corinne zum Casting von Maurice Pialats "À nos amours" ("Auf das, was wir lieben", 1983), doch der umstrittene Regisseur ließ Sandrine vorsprechen, erkannte ihre Begabung und gab ihr die Rolle einer Schülerin aus der Banlieue, die auf der Suche nach Liebe nur sexuelle Abenteuer und Liebhaber findet. Auf Anhieb gewann sie, die nie Schauspielunterricht genommen hatte, für die Hauptrolle in diesem traurigen Teenager-Porträt den César als beste Nachwuchsdarstellerin.

Als Luxus sieht Bonnaire es an beim Film zu arbeiten, statt ein Leben zu führen, das ganz von Arbeit und Gedanken ans Geld bestimmt wird, in dem man aber keine Zeit für sich hat. Nach einem weiteren Film ihres "Zweitvaters" Pialat, in dem sie eine Prostituierte spielte ("Police – Der Bulle von Paris", 1985), gelang der 18-Jährigen mit Agnès Vardas "Sans toit, ni loi" ("Vogelfrei", 1985) der internationale Durchbruch.

Vielfältige Rollen folgten auf diese intensive Verkörperung einer Landstreicherin, für die sie mit dem César als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde. Für Pialat spielte sie in seiner umstrittenen Bernanos-Verfilmung "Sous le soleil de Satan" ("Die Sonne Satans", 1987) eine Kindfrau, die zur Mörderin wird, für Jacques Rivette in seinem über fünfstündigen "Jeanne la Pucelle" ("Johanna, die Jungfrau", 1993) die französische Nationalheilige Jeanne d´Arc sowie eine Forscherin, die den Tod ihres Vaters rächt, in der "Elektra"-Aktualisierung "Secret Défense" ("Geheimsache", 1998).

Lebten ihre frühen Rollen entscheidend von ihrer physischen Präsenz, so ist ihr Spiel, das frei ist von allen Starallüren mit den Jahren zurückhaltender geworden. Michel Piccoli, der ihr Partner in Jacques Doillons "La puritaine" (1986) war, schwärmte von ihr als "Anfängerin mit dem Lächeln der Bardot und der Reife der Moreau".

Nicht ebenmäßige Schönheit ist Bonnaires Kapital, sondern wie Jacques Doillon über sie und Juliette Binoche 1994 feststellte: „Sie besitzen eine Art von Anmut und Charme, der einzigartig ist. Ich spreche hier nicht von der reinen äußerlichen Schönheit. Sie sind keine Mannequins, es sind ganz große Charaktergestalten mit einer großen Zukunft.

Nie sind Bonnaires Figuren folglich glatt, sondern bewahren immer etwas Unergründliches und Geheimnisvolles. Bei Patrice Leconte lässt sie sich in der meisterhaften Simenon-Verfilmung "Monsieur Hire" ("Die Verlobung des Monsieur Hire", 1989) von einem Voyeur nicht einschüchtern, sondern geht in die Offensive. Undurchschaubar ist sie beim selben Regisseur auch 15 Jahre später, als sie in "Confidences trop intimes" ("Intime Fremde", 2004) als unzufriedene Ehefrau im Büro eines Steuerberaters statt in der Praxis eines Psychotherapeuten landet.

Wie sie sich in Safy Nebbous "L´empreinte de l´ange" ("Das Zeichen des Engels", 2008) ein faszinierendes Psychoduell mit Catherine Frot liefert, so verbündet sie sich in Claude Chabrols "La céremonie" ("Biester", 1995) als Dienstmädchen, das des Schreibens nicht mächtig ist, mit einer von Isabelle Huppert gespielten dynamischen Postbotin. Gegenseitig bestärken sie sich in ihren aufgestauten Verletzungen und Aggressionen, bis beide Amok laufen. – Für diese Leistung gab es für das Schauspielerinnenduo 1996 bei den Filmfestspielen von Venedig die Coppa Volpi als beste Darstellerinnen.

Kein Knick lässt sich in ihrer Karriere feststellen, frei von Skandalen ist ihr Leben. Jedes Rollenangebot überprüft sie genau, spielt vorzugsweise Charaktere, die möglichst weit von ihrer eigenen Persönlichkeit entfernt sind, um aus dem Spiel etwas zu lernen. Nicht nur mit arrivierten Regisseuren, sondern oft auch mit Newcomern arbeitet sie, wie mit Safi Nebbou bei "Le cou de la Girafe" ("Der Hals der Giraffe", 2004), Philippe Loiret bei "Mademoiselle" (2001) und "L´Èquipier" ("Die Frau des Leuchtturmwärters", 2004) oder Caroline Bottaro bei "Joueuse" ("Die Schachspielerin", 2009). Raum lassen diese Regisseure ihrem Star, um den Figuren Profil zu verleihen.

Ein Glanzstück ist in dieser Beziehung wohl, wie Bonnaire in "Joueuse" die Entwicklung eines Zimmermädchens vom mehr oder weniger willenlosen Objekt zum handelnden und selbst entscheidenden Subjekt spielt, das den aufs Schachspiel bezogenen Satz ihres Lehrers "Wer nichts riskiert, hat schon verloren" auf ihr Leben überträgt und ihre Wünsche und Sehnsüchte zu entdecken und auszuleben beginnt.

Und neben dem Schauspiel hat sie sich in den letzten Jahren auch der Regie zugewandt. Bewegend porträtiert sie im Dokumentarfilm "Elle s´appelle Sabine" (2007) ihre autistische Schwester, auf den 2012 ihr erster Spielfilm "J´enrage de son absence", der auf den Lebenserinnerungen ihrer Mutter beruht, folgte. - Spannend wird es sein zu verfolgen, wie sich die Karriere Bonnaires weiterentwickeln wird.

Trailer zu "À nos amours"