Ein beeindruckender Œdipe zum Auftakt der Bregenzer Festspiele

Die wahrhaft große Oper bei den Bregenzer Festspielen wird im Festspielhaus gegeben. Diesmal George Enescus monumentales Werk Œdipe, das in der Inszenierung von Andreas Kriegenburg als eindrückliche, psychologisch hochkomplexe Geschichte erzählt wird, die unter der Leitung des finnischen Stardirigenten Hannu Lintu in wunderbarer Musik verschmilzt. Lilli Paasikivi, die neue Festspielintendantin, gibt mit der Wahl des Stücks und der Interpreten ihren fulminanten Einstand für die kommenden fünf Jahre Programmgestaltung.

Populäre Opern als Spektakel auf der Seebühne und aufwändig umgesetzte, rare Meisterwerke im Haus sind das bewährte dramaturgische Bregenzer Erfolgskonzept, und wieder hat man sich selbst und Vorangegangenes übertroffen. Die einzige Oper von George Enescu – er hat mehr als zwanzig Jahre daran gearbeitet – ist Tragödie, Parabel und Mysterium des Menschseins zugleich. Der rumänische Komponist (1881–1955) gehörte als Geiger und Dirigent zu den großen Interpreten des frühen 20. Jahrhunderts und schrieb neben fünf Symphonien hauptsächlich Kammermusik. Œdipe spannt den umfassenden Bogen über ein gesamtes Leben, und diese unheimliche, archaische Kraft des Ödipus-Mythos nach Sophokles findet intensivste Entsprechung in Enescus Musik.

Und genau das ist im Bregenzer Festspielhaus zu erleben. Regisseur Andreas Kriegenburg versucht immer die Handlung „in ihrer Komplexität ernst zu nehmen, aber sie nicht zu trivialisieren. Auch in der Oper sehe ich mich in erster Linie als Erzähler. Für uns war schnell klar: Wir wollen die Geschichte nicht banalisieren, sondern sie in ihrer archaischen Fremdheit bewahren.“ Die vier Akte – dazwischen vergehen jeweils zwanzig Jahre – nimmt er als eigenständige Teile, inszeniert quasi vier Miniopern, die eine Farbe und ein Element zugeordnet bekommen.  

Der erste Akt steht im Zeichen des Feuers. Ein Prolog, die Zeremonien zur Geburt des Königssohns werden jäh vom blinden Seher Teiresias gestört, der dem schuldbeladenen König Laios prophezeit, sein Sohn werde ihn töten, die eigene Mutter heiraten und Kinder zeugen. Der zweite Akt, zwanzig Jahre später, entspricht dem Element Wasser – Nebel, nicht durchdringbar. Der unwissende Ödipus verlässt Korinth und seine vermeintlichen Eltern, er erschlägt an der Wegegabelung in Notwehr Laios, seinen Vater. Die sägerauen, raumhohen Holzbalken des genialen Bühnenbilds von Harald B. Thor geben Hintergrund für den verzweifelt Suchenden, der das Orakel nun kennt. Der französische Bassbariton Paul Gay bringt die Tragik des schuldlos Schuldigen psychologisch fesselnd und stimmlich hervorragend rüber. Er bezwingt die Sphinx, rettet Theben und das Schicksal nimmt seinen Lauf.

Asche und Pest im dritten Akt, verbrannt und vergangen. Ein Mörder sei in der Stadt, diesen zu entlarven brächte Erlösung. König Ödipus muss in einer unerträglich-spannenden Szene erkennen, dass sich das Orakel bereits erfüllt hat. Iokaste nimmt sich das Leben, Ödipus blendet sich selbst, er muss die Stadt verlassen, begleitet einzig von seiner Tochter Antigone.

Die Musik ist bildreich, erzählerisch, dramatisch, mit raffinierten Klangfarbenmischungen, und es wundert nicht, dass Enescus Oper bei der Uraufführung 1936 in Paris ein gewaltiger Erfolg war, doch dass sie bald darauf zur Rarität wurde, sehr wohl. Die Partitur sei extrem dicht und komplex, erklärt der Dirigent Hannu Lintu, und er habe ein ganzes Jahr gebraucht, um diese zu durchdringen. Die großformatige sinfonische Besetzung habe kaum im Orchestergraben Platz gefunden. Dennoch treten einzelne Instrumente quasi psychologisch-kammermusikalisch hervor: Die pastorale Flöte in den zahlreichen Hirtenszenen oder die klagende Oboe bei Ödipus´ ersten Auftritt und der unheimliche Effekt des Alt-Saxofons, wenn es für einen Takt im heftigen Aufschrei aus dem Satz ausbricht; ein unheilverkündender Rabe vor dem Mord, der im Fagott krächzt; schauerlich, das Glissando der singende Säge beim Tod der Sphinx – faszinierend auch in Bild und Szene – sowie die Peitschenknalle beim Verhör des Hirten, wenn Ödipus die Wahrheit über sich selbst erkennt. Der Chor mit 64 Sänger:innen(!!) hat die Funktion, die Handlung entweder zu kommentieren oder atmosphärisch zu verdichten. Zu Beginn und am Ende werden die rituellen Handlungen durch die arrangierte Menge mit sakraler Aura aufgeladen. 

Epilog. Nach jahrzehntelanger Isolation zeigen die Götter Gnade und Ödipus erreicht den heiligen Hain. Holz und Erde. Ödipus, der schuldlos Schuldige – aber dennoch ein Auserwählter – gab auf die Frage der Sphinx: „Was ist stärker als das Schicksal?“ (in der Überlieferung gilt sie dem einen Wesen, das zunächst vier-, dann zwei- und schließlich dreibeinig sei) als richtige Antwort: „Der Mensch!“, und dennoch muss er am Ende erkennen, dass man vor sich selbst nicht flüchten kann, nicht vor der Wahrheit, nicht vor der Verantwortung, nicht vor dem Schmerz. „Ich war blind, lange bevor ich mir mein Augenlicht nahm.“ Erst mit dieser Selbsterkenntnis bestimmt der Mensch sein Schicksal. Die Eumeniden – die Wohlmeinenden – singen berührend: „Glücklich der, dessen Seele rein ist: Der Friede sei mit ihm!“ Vorhang, sehr langsam. 

Tosender, nicht enden wollender Applaus – für die hochkarätigen Sängerinnen und Sänger, für den berührenden Œdipe Paul Gay, für den fulminanten Prager Philharmonischer Chor, Jubel über die Wiener Symphoniker in aller musikalischer Pracht unter der Leitung von Hannu Lintu, Begeisterung für die Regie, Bühne, Licht und die Kostüme. Was für ein bedeutender Opernabend!

 Œdipe | George Enescu
Tragédie lyrique in vier Akten und sechs Bildern (1936)
Libretto von Edmond Fleg, nach Sophokles

Musikalische Leitung: Hannu Lintu
Inszenierung: Andreas Kriegenburg
Bühne: Harald B. Thor
Kostüme: Tanja Hofmann
Licht: Andreas Grüter
Dramaturgie: Florian Amort
Œdipe: Paul Gay
Teiresias: Ante Jerkunica
Kreon: Tuomas Pursio
Der Hirte: Mihails Čuļpajevs
Der Hohepriester: Nika Guliashvili
Phorbas / Der Wächter: Vazgen Gazaryan
Theseus: Nikita Ivasechko
Iokaste: Marina Prudenskaya
Laios: Michael Heim
Die Sphinx: Anna Danik
Antigone: Iris Candelaria
Merope: Tone Kummervold
Prager Philharmonischer Chor, Leitung: Lukáš Vasilek
Wiener Symphoniker