Eigenes Urteilen

Als vor einigen Wochen die Neue Zürcher Zeitung das Tondokument der Preisrede von Emil Staiger aus dem Jahre 1966, das zufällig gefunden worden war, zugänglich machte, befasste ich mich wieder mit dem Text, meiner damaligen Rezeption, meiner später geänderten Sicht und verglich mit ähnlichen Erfahrungen, die ich in jüngerer Vergangenheit machen musste.

Was ich damals als Junger, der die Rede in der Zeitung las und dann die heftige Reaktion vor allem eines Autors, den ich sehr schätzte, Max Frisch, zur Kenntnis nahm, führte zu einer Folgschaft, Gefolgschaft: ich übernahm überaus bereitwillig die Kritik an dem Professor, dem Konservativen. Allerdings auf eine Weise, die nicht auf Kenntnissen und Prüfungen beruhte, sondern leichte Übernahme plausibel vorgebrachter Urteile. Ein ganz normaler Vorgang: entsprechend einem Rezeptionsklima und seinen gängigen Bedingungen formte ich mein Wahrnehmungsfeld, bewegte mich im gewählten Wertespektrum und akzeptierte Verdikte, die diesem Verständnis und Weltbild entsprachen eher als andere.

Später lernte ich zu unterscheiden. 1974 erwarb ich die Broschüre "Der Zürcher Literaturschock" von Erwin Jaeckle, ein Dokument der Zeit, 1967 verfasst, 1968 ausgeliefert. Die penible Dokumentation und anders kritische Argumentation vermochte mich aber noch nicht von meiner Haltung abzubringen. Mein Bewertungsschema, mein Wertrahmen deckte sich mit dem der meisten bzw. für mich wichtigsten Kritiker.

Es dauerte nicht nur einige Zeit, sondern es brauchte viele Erfahrungen in diesen Zeiten, bis mir der Einfluss der Zeit, des sogenannten "Zeitgeistes", der Umwelt, klarer wurde und ich vermochte, eigenes Denken von übernommenen zu unterscheiden, eigenes Denken und Urteilen zu generieren und zu stärken. Ein oft schmerzhafter Prozess, weil ich plötzlich Persönlichkeiten und ihre eingenommenen Positionen nicht mehr uneingeschränkt annehmen konnte und wollte, obwohl ich sie schätzte. Das Verständnis für eine widersprüchliche Haltung, die nicht eindimensional "ja" oder "nein", Gefolgschaft oder Gegnerschaft hiess, sondern Abweichungen, Oppositionen zuliess, gerade auch dort, wo es um sonst geschätzte, gepriesene Haltungen und Personen ging, war nur schwer und langwierig zu bilden.

Staiger wurde mir zwar nicht zum Gegenteil, was er mir damals schien, aber mein Urteil habe ich revidiert. Vor allem habe ich gelernt, die Scheuklappen, die in meinem Fall ideologische waren, die genauso schlecht religiöse oder nationale hätten sein können, als solche zu erkennen und abzustreifen oder erst gar nicht anzulegen.

Im Laufe der Jahre hatte ich hie und da ein Urteil geändert. Eigenes Denken ist keine Garantie für "richtiges" Denken. Ich musste oft revidieren. Aber in den wichtigen Fällen nicht wegen billiger Übernahme anderer Sätze, sondern weil sich mein Denken verändert hatte, vor allem aber, weil ich mehr Erfahrungen gesammelt hatte. Letzteres lernte ich als wichtigsten Aspekt, weit über den Wissenstand hinaus, wertzuschätzen.

Zwei einschneidende Ereignisse der jüngeren Vergangenheit zeigten mir, wie leicht und rasch man sich plötzlich in Gegnerschaft finden kann bzw. wie fremd die Reaktionen und Urteile anderer ausfallen können, die doch dasselbe wie ich gehört hatten. Das eine war die Gedenkrede von Philipp Jenninger am 10. November 1988 in seiner Funktion als Präsident des Deutschen Bundestages und die damit ausgelöste Hetzjagd. Das andere war zehn Jahre später die Friedenspreisrede von Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche 1998. Und auch dort legte eine Meute los, dass ich mich nur wunderte.

Jenningers Rede hatte ich auf Video aufgenommen. Ich folgte ihr gespannt. Mir fielen einige Reaktionen von Zuhörerinnen und Zuhörern körpersprachlicher Art auf , mehr nicht. Als ich dann las, was für ein Verbrechen Jenninger begannen habe, fragte ich mich zuerst, ob es um ein und denselben Jenninger und dessen Rede ginge. Ich konnte mich an kein moniertes Zitat oder Urteil erinnern. Ich hatte die Rede offenbar anders gehört. Ich war aber aufmerksames Hören gewohnt. Ich vertraute meinen kognitiven Fakultäten. Da musste was Anderes vorliegen. Ich sah mir die Videoaufzeichnung an und horchte auf die inkriminierten Stellen. Ich erschrak. Die Menge hatte gehört, was sie hören wollte, sie hatte geurteilt, wie das gewünscht Gehörte korrekt abzuurteilen war, sie hatte offenbar einer eingeschliffenen Rezeptionshaltung folgend zu schnell gehört und damit falsch gehört. Sie hat ihm das Wort verdreht. Sie hat ihn damit fertig gemacht.

Es war fast nicht möglich zu jener Zeit, mit wenigen Ausnahmen, auf die Herdenhaltung, das reflexartige Blöken, das folgsame Einheitsgebrülle, die Erfüllung von korrekt sich wähnenden Pflichtübungen hinzuweisen und andere Schlussfolgerungen und Urteile verstehbar zu kommunizieren. Die Technik war so simpel wie je: man wurde selbst als Geschichtsklitterer, Lügner oder Sympathisant verschrieen, ins Eck gestellt und stigmatisiert. Gescheite Leute mutierten zu Hordenmitgliedern kläffender Rudel, die sich jammernd oder zornschäumend als Retter des Abendlandes und berufene Rächer der Opfer legitimiert sahen. Mir schien es, als ob rationales Denken ihnen abhanden gekommen war und sie reagierten wie jene dummen Deppen, die sie sonst auf der Gegenseite so häufig ausmachten.

Ich beliess es nicht bei meinen subjektiven Eindrücken sondern nutzte die Videoaufnahme zu analytischen Arbeiten mit Studenten, die ich damals an der Universität Wien unterrichtete. Ich versuchte herauszuarbeiten, was Jenninger denn gesagt hat, und wie es gehört worden war. Welches Hören war korrekt? Korrekt nach welchen Kriterien? Ich konnte zeigen, dass ein mental-stumpfes Hörvermögen einerseits, eine gewisse Erwartung andererseits in einem gewissen Rezeptionsumfeld die Fehlurteile begünstigte. Es wurden indirekte Reden und Konjunktive, Zitate und Beispiele nicht verstanden, die eindeutig verstehbar gewesen sind, war man nicht nur der deutschen Sprache mächtig, sondern "hörend". Offensichtlich wollten die meisten Gutmenschler aber nicht zuhören, Gedankengängen folgen, Argumentationen bedenken, sondern Signale und Reizwörter wahrnehmen und ihnen nachgeben. Dabei setzte das vernünftige Denken aus. Vom kritischen ganz zu schweigen.

Bei Walser war es ähnlich. Chefdeuter hörten und lasen offenbar so stark verzerrt das, was ihnen Gelegenheit bot einzuhaken und loszudreschen und sich dabei als politisch Korrekte zu beweisen, die gegen die neue Falanx von Ewiggestrigen (Nazis, Antisemiten) einsam kämpfen, dass in den Debatten fast nur noch Floskeln und Behauptungen kursierten, nicht aber jene Sätze, die verurteilt wurden. Auch dort führte genaueste Lektüre mich zu einer Gegenhaltung: ich konnte bei Walser nicht finden, was Ignatz Bubis und die Seinen fanden. Es war ein Politikum. Wer sich am symbolischen Schlachten (als Vorform des realen) beteiligte, durfte öffentlicher Akklamation sicher sein. Wenige stellten sich hinter Walser.

Mich empörte dieser Zirkus nicht nur, sondern besorgte auch, weil er bewies, wie dünn das zivilisatorische Häutchen, das die (Un)Kultur überspannte, war. Sie verbrannten zwar noch nicht die Bücher des verworfenen Autors, er wurde nicht ins KZ geschickt oder nach Sibirien, aber sonst war er eigentlich "erledigt". Fertig gemacht. Gebildete Menschen zeigten sich als Teile eines Mob. Die "Macher" aber instrumentalisierten ihn, um ihre Politik durchzudrücken. Und sie wurden von einer Mehrheit gepriesen. Ein widerliches Schauspiel. Die Zeit der Schauprozesse, die seit den Achtzigerjahren erstarkte, ist aber nicht vorbei. Die Gefährlichkeit eigenen Denkens und Urteilens nahm derart zu, dass viele heute in Unverbindlichkeiten sich flüchten, um ja nicht anzuecken oder gar ausgeschlossen zu werden.