Ego-Dokumente

Im Erleben existentieller Ereignisse und Krisen entzünden sich spezifische Ausdrucksbedürfnisse oder Umformulierungen des Ich. Das hieraus entwickelte künstlerische Schaffen ist nicht allein Werk, sondern zugleich Ich-Konstruktion und Selbstmanifestation. Die Grenzen zwischen einem gestaltenden Ich und gestaltetem Kunst-Ich verwischen. Die Ausstellung "Ego-Dokumente" umfasst verschiedene künstlerische Positionen: Allen gemeinsam ist das stetige Umkreisen, Darstellen, Erläutern, Umdeuten oder gar Erfinden der eigenen Person. Parzival und Emil Manser überschreiten die Grenze zwischen gelebtem Ich und Kunst-Ich, sie verkörpern ihre Ideen.

Pietro Angelozzi (1925–2015) wollte nie "Kunst" schaffen. Tatsächlich folgt er einem göttlichen Auftrag, der Welt von seinen sieben Visionen zu berichten: Die erste Vision erfährt er 1932 noch als Kind, im Alter von sieben Jahren, seine letzte mit 49 Jahren – nach magischen 7 x 7 Jahren. In fortwährend neu erzählten Bild-Geschichten, die Angelozzi mit Hilfe kleiner Wörterbücher in diversen Sprachen verfasst, schildert er seine göttlichen Ausnahmeerlebnisse. Ähnlich der Offenbarung des Johannes öffnet sich der Himmel und er sieht das Auge Gottes, aus dem Flammen zur Erde stürzen. Er sieht Jesus zur Rechten Gottes sitzen, begleitet von Engeln, den Morgenstern und in seiner letzten Vision 1974 – schon in der Schweiz – eine Feuerwolke über sich schweben. Dabei verknüpfen sich die Visionen immer auch mit Situationen aus seinem Leben, der Familie und seiner Heimat, mit dem Verlust der Mutter und dem Leben beim Grossvater auf dem Land. Eine Lebensdokumentation göttlicher Erfahrung. Mit der Vernissage zu seinem 90. Geburtstag soll Pietro Angelozzis Lebenswerk postum gewürdigt werden.

Obsessiv spiegelt Anton Bernhardsgrütter (Anton B. lpc, geb. 1925) sein Ich in unzähligen Zeichnungen und Gemälden. 1973 bricht der Lehrer aus seinem Leben aus und widmet sich seitdem der Kunst. Sein "Ich", schreibt er, "scheint ihm in den 30er Jahren abhanden gekommen zu sein". Daher spricht er von sich in der dritten Person und splittet sich in drei Persönlichkeiten auf: die Figur des kritischen Satirikers und Chronisten Anton Brenzligugger, die Figur des ‹derben Knechts Franz Grubenmann als instinkthafter Mensch› und die "gebildete Figur des imaginären Reisens, des permanenten Anderswo, Joseph Kremars". Eine vierte Facette übernimmt die Enkelin Saskia-Corina als Projektionsfigur aller nicht gelebten Hoffnungen. Seine Signatur lautet "Anton B. lpc": "le pauvre cochon" – "das arme Schwein".

Der Strassenphilosoph Emil Manser (1951–2004) war in Luzern als "Stadt-Original" bekannt, der in verschiedenen Rollen mit seiner Plakatkunst die Öffentlichkeit irritierte und verunsicherte. Als "Spinner" und "Störenfried" wurde er empfunden, doch ebenso als "Visionär". Mit seinen appellativen Plakaten hat er alle angesprochen – und auch provoziert. Die Schreibfehler des gelernten Buchdruckers sind keine Fehler, sondern Absicht, "bewusst gesetzt und eingesetzt", mit Lust am Spiel. Er ist der Narr, welcher der Gesellschaft den Spiegel vorhält, der Grenzen überschreitet, um in diesem Freiraum kreativ zu agieren. In der Ausstellung wird sein Wirken über Originalplakate (Leihgaben des Historischen Museums Luzern) und Fotografien zum Ausdruck gebracht, die Manser mit seinen Plakaten zeigen.

Persönliches wird auf die Aussenwelt projiziert und in der Abrechnung mit dem Weltgeschehen die Auseinandersetzung mit dem Ich gesucht. Im staatlichen wie gesellschaftlichen Zusammenbruch des Ersten Weltkrieges sieht Rudolf Heinrichshofen (1858–1945) seine Lebensgeschichte gespiegelt. Für ihn potenziert sich die Ohnmacht des Bürgers in der Entmündigung und Anstaltsinternierung als "Geisteskranker", die er bitter beklagt. Er kompensiert seine ausweglose Situation mit Spott auf das ihn beherrschende System und gestaltet eine Prachthandschrift, entstanden um 1919 in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hildburghausen, aufbewahrt in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg.

Werner Baptistas (1946–2012) umfangreiches Werk besteht aus grossformatigen Acrylgemälden bis hin zu kleineren Blättern und unzähligen Tage- und Notizbüchern, gefüllt mit Zeichnungen und Collagen, in denen er, immer um sich selber kreisend, sein Ego auslebt. Mit 16 Jahren heuert Baptista auf einem Schiff an. Er kommt herum und erlernt verschiedene Berufe, kehrt aber nach einem Unfall nach Zürich zurück, wo er anfängt zu schreiben und später auch malt und zeichnet. Ab 1988 pendelt er zwischen Zürich und Paris. Sein Nachlass befindet sich im Museum im Lagerhaus.

Der selbst ernannte "Grünschuhpharao" und "Ambassadeur du Soleil" Parzival (Biel/Sonceboz) agiert als "Weltregierung" und unterwirft sein ganzes Sein und Handeln der Idee des Weltfriedens sowie des ökologischen Bewusstseins. Politisch motiviert, sind seine Agitationen jedoch derart künstlerisch gestaltet, dass sie zur nicht endenden Lebens-Performance geraten. Er trägt grüne Kleidung als Farbe der Photosynthese und hat als Auto-Verweigerer in Biel seine Velo-Taxi-Dienste angeboten. Parzival ist ein Verfechter des Esperanto, der Weltsprache zur internationalen Verständigung, und bietet auch Esperanto-Kurse an. In "Blasphemieduellen" stellt er sich der Öffentlichkeit zu einem Gesprächsduell – bis zum Konsens. In der Deutschschweiz noch unbekannt, ist Parzival mit der Gestaltung eines Raumes und Aktionen im Museum im Lagerhaus vertreten.


Ego-Dokumente
10. November 2015 bis 28. Februar 2016