1. Januar 2008 - 3:26 / Walter Gasperi / Filmriss
logo filmriss

In seinem 15. Kinofilm taucht der Kanadier David Cronenberg in das Milieu der Londoner Russenmafia ein. – Ein atemberaubend konsequent und messerscharf inszenierter makelloser Thriller, der gleichzeitig atmosphärisch dichte Milieustudie und dank exzellenter Besetzung faszinierende Charakterstudie ist.

Aus dem Nichts heraus bricht wie in David Cronenbergs letztem Film "A History of Violence" die Gewalt in der ersten Szene los, wenn in einem Frisiersalon einem Kunden die Kehle durchschnitten wird. Nicht die Tat an sich löst einen Schock beim Zuschauer aus, sondern die Selbstverständlichkeit und eisige Kälte, mit der der Kanadier dieses Verbrechen zeigt. Die Szene ist kurz, doch so intensiv, dass sie ausreicht um über den ganzen Film eine Atmosphäre der Verunsicherung und latenter Gewalt zu legen. Verstärkt wird diese Stimmung noch durch die sich übergangslos an die Eröffnung anschließende zweite Szene, in der eine hochschwangere Frau blutend in einer Apotheke zusammenbricht. Im Krankenhaus wird die junge Russin, die in London offensichtlich als Prostituierte arbeitete, eine Tochter gebären, selbst dabei aber sterben. – Leben und Tod liegen im Universum David Cronenbergs nah beieinander.

Die russischstämmige Hebamme Anna (Naomi Watts) wird sich des Babys und auch des Tagebuchs der verstorbenen Mutter annehmen. Selbst des Russischen nicht mächtig muss Anna das Tagebuch zur Übersetzung weitergeben und kommt beim Versuch Informationen über das Leben der Verstorbenen und ihre Familienangehörigen zu gewinnen in Kontakt mit der Londoner Russenmafia, die wenig erbaut ist über Annas Nachforschungen.

Zwei Milieus treffen so aufeinander: Auf der einen Seite Anna, die in einer kleinbürgerlichen Wohnung mit Mutter und russischem Onkel lebt, auf der anderen Seite der Patriarch Semyon, Chef der Londoner Russenmafia und Inhaber eines vornehmen Restaurants. Nicht nur Anna, sondern mit ihr auch der Zuschauer taucht in diese Parallelwelt ein, in der eine strenge Hierarchie und genaue Regeln herrschen. Eine Glanzleistung liefert Armin Mueller-Stahl als nach außen hin sanftes Familienoberhaupt. Langsam vermischen sich die Milieus, bricht die Gewalt auch – eine weitere Parallele zu "A History of Violence" - in die bislang heile Welt Annas ein. - Gewalt ist bei Cronenberg eben immer ein Grundelement der "condicio humana", schlummernd unter der dünnen Schicht der Zivilisiertheit.

Undurchschaubar bleibt dabei der von einem in seiner Kühlheit und seinem Minimalismus grandiosen Viggo Mortensen gespielte Russe Nikolai. Als Fahrer arbeitet dieser wortkarge, seine Augen zumeist hinter einer schwarzen Sonnenbrille verbergende Mafiosi für den Paten Semyon, hält sich aus allem heraus, wobei er immer wieder betont, dass er nur der Fahrer sei, und erledigt eiskalt seine Jobs wie das fachmännische Entsorgen von Leichen. Auf den Leib tätowiert hat er sich wie seine Kollegen sein Leben und die Körper erzählen so Geschichten. - Seit den Anfängen von Cronenbergs Karriere, seit "Scanners" (1981) und "The Fly" (1986) über "Naked Lunch" (1991) und "Crash" (1996) bis zu "eXistenZ" (1999) und "Spider" (2002) bestimmt Körperlichkeit die Filme des Kanadiers. In "Eastern Promises" können die Tätowierungen aber auch zur Täuschung dienen, wie in einer spektakulären, ebenso harten wie brillant choreographierten Kampfszene in einem türkischen Bad klar wird.

Vieles ist nicht so wie es auf den ersten Blick scheint. Wie so oft bei Cronenberg sind die Identitäten ungewiss, schwankend. Hinter dem scheinbar gutmütigen Borschtsch kochenden Semyon, der zu Weihnachten ein großes Familienfest organisiert, verbirgt sich ein brutaler Gangsterboss, der Frauen ausbeutet und zugrunde richtet. Das Bild Nikolais dagegen wandelt sich im Laufe des Films vom coolen Mafiosi zu einem kaum weniger coolen und geheimnisvollen, aber doch sehr humanistisch eingestellten engelhaften Beschützer.

So entwickelt sich "Eastern Promises" weit über einen oberflächlichen Thriller hinaus zu einer meisterhaften Milieu- und Charakterstudie, die durch die stringente Inszenierung nie nachlassende Spannung entwickelt. Meisterhaft kontrastiert einerseits die elegische Musik von Howard Shore die harte Thrillerhandlung und erzeugen andererseits die dunklen, oft verregneten Bilder von Kameramann Peter Suschitzky eine düstere und bedrohliche Stimmung.

Dichte gewinnt Cronenbergs Film, aber auch durch die Konsequenz, mit der Motive auf allen Ebenen durchgespielt werden. Kein Zufall ist es, dass die Handlung zwischen Weihnachten und Neujahr spielt und der englische Titel "Eastern Promises" will sicher auch bewusst Assoziationen zu "Ostern" wecken. Zudem bekommt das Baby den Namen Christine, der wieder an Christus denken lässt, und in der bei aller Beiläufigkeit zentralen Rolle, die dieses Baby spielt, wird es zum Hoffnungsträger in einer brutalen, von Antagonismen bestimmten chaotischen Welt.

Wie es bei Weihnachten und Ostern um Geburt und Tod geht, so kreist Cronenbergs Thriller immer wieder um diese Themen, erzählt auch von einer Wiedergeburt Nikolais innerhalb der Russenmafia, und immer wieder von Eltern-Kind-Beziehungen. Denn einerseits berichtet die Verstorbene in ihrem aus dem Off-rezitierten Tagebuch über ihren Vater, ihre Kindheit und ihre Sehnsucht nach einem besseren Leben, andererseits trauert Anna ihrem verlorenen Baby nach und drittens ist die Beziehung zwischen Semyon und seinem cholerischen und homosexuellen Sohn Kyrill (Vincent Cassel) äußerst konfliktbeladen. Und dabei geht es auf allen Ebenen wieder um die Familie, um Annas Sehnsucht nach einer Familie, die zerstörte Familie der verstorbenen Mutter, die Großfamilie des Patriarchen, die Russenmafia als Ersatzfamilie und letztlich darum, dass Blut immer noch dicker ist und mehr verbindet als berufliche Leistung und Fähigkeit.

Allein und zur Einsamkeit verdammt bleibt hier der Fahrer Nikolai - einer der letztlich außerhalb jedes gesellschaftlichen Kontextes steht, weder zum kleinbürgerlichen Milieu Annas noch zur Russenmafia gehört. - Für ihn behalten sich Cronenberg und sein Drehbuchautor Steve Knight zwar eine überraschende Wendung vor, von seiner Einsamkeit befreit ihn diese aber kaum, stößt ihn vielmehr noch tiefer in sie hinein.

Die Meinung von Gastautoren muss nicht mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen. (red)



2692-2692easternpromises01.jpg