Durchblick

Im Rahmen seines Schwerpunktprogramms zur Designgeschichte des 20. Jahrhunderts zeigt das Wagner:Werk Museum Postsparkasse vom 15. Mai bis 18. August 2012 die Sonderausstellung "Durchblick. Jenaer Glas, Bauhaus und die Küche als Labor". Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt die Firma Schott in Jena ein völlig neuartiges, hitzebeständiges Glas für den Haushaltsbereich.

Mögliche Käufer stehen jedoch skeptisch vor dem undekorierten Glas, das mehr in ein Labor als in eine Küche zu gehören scheint. Schott erkennt, dass derart moderne Produkte nicht ohne Formgestaltung und Werbung erfolgreich verkauft werden können. Man beauftragt daher Künstler, die im benachbarten Weimar am Bauhaus gelehrt oder studiert hatten, dem noch unbekannten Produkt Gestalt und Image zu geben.

In den frühen zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts treibt das Staatliche Bauhaus in Weimar, flankiert von der holländischen De-Stijl-Bewegung und dem russischen Konstruktivismus, die Orientierung auf die Industrie am entschiedensten voran. Der Gründer der Kunst- und Architekturschule, Walter Gropius (1883 – 1969), sieht mit strategischem Blick, dass die großen Epochen des eigenständigen Handwerks vorüber sind und dass die Zukunft des Gestalters in der Mitarbeit am industriellen Produkt liegt. Dabei kommen ihm die zu Beginn eher informellen Kontakte zu den beiden "Weltfirmen" – die von Carl Zeiss (1816 – 1888) gegründete Werkstätte für Feinmechanik und Optik und das Glaswerk des Chemikers und Glastechnikers Otto Friedrich Schott (1851–1935) – im benachbarten Jena zugute.

Otto Friedrich Schott, Mitbegründer des "Glastechnischen Laboratoriums Schott & Gen.", hatte bereits um 1890 ein hitzebeständiges Borosilicatglas entwickelt, das als Thermometerglas, Geräteglas für chemische Laboratorien und für Gasglühlichtzylinder zum Einsatz kam. Als die Absatzzahlen für Gasglühlichtzylinder durch das Aufkommen der elektrischen Beleuchtung zurückgehen, sucht man in Jena nach anderen Einsatzmöglichkeiten. Beim Hauptkonkurrenten "Corning Glassworks" in den USA wurde während des Ersten Weltkriegs ebenfalls ein hitzebeständiges Glas entwickelt und als Haushaltsglas unter dem Handelsnamen "Pyrex" bekannt. An diesem Vorbild orientiert man sich nun auch in Jena, um einen neuen Markt zu erschließen. Ab 1918 bietet man erstmals eine gläserne Milchflasche an, 1921/1922 folgen Teegläser und kurz darauf das "Durax"-Backgeschirr.

Auf der Bauhaus-Ausstellung im Jahr 1923 ist die Küche des Musterhauses am Horn bereits mit Backgeschirren aus Jenaer Glas ausgestattet. Das Kochen und Backen in durchsichtigem Glas entspricht der Auffassung von technologie-orientierten Gestaltern wie Walter Gropius, die Abläufe des Lebensalltags mit industriellen Funktionsprozessen gleichzusetzen – die Küche wird als Labor begriffen. Erich Schott (1891–1989), der Sohn des Firmengründers, wird durch Walter Gropius für die Formprobleme der frühen Jenaer Haushaltsgläser sensibilisiert ("...die Formgebung der Gefäße in ihren Kurven, Rändern und Knöpfen ist zu verwaschen und unausgesprochen") und entschließt sich in der Folge zur Zusammenarbeit mit Künstlern, die in Weimar am Bauhaus gelehrt bzw. gelernt hatten, um dem völlig neuartigen Produkt Gestalt und Image zu verleihen.

Schott wird zu einem wichtigen Partner für die künstlerische Moderne. In seinem Auftrag entwickelt Gerhard Marcks (1889 – 1981), von 1920 bis 1925 als Formmeister in der Keramikwerkstatt des Bauhauses in Dornburg tätig, 1928 die Grundform der Kaffeemaschine "Sintrax" aus der Kombination von Zylinder- und Halbkugelformen und schafft damit die erste künstlerisch gestaltete Industrieform aus Jenaer Glas für die Serie. Großen Absatz finden die neuen Hauswirtschaftsgläser aber noch nicht, abgesehen von den Milchflaschen. Noch stehen die Käufer dem Glas, das an Laborglas erinnert und vollkommen ohne Dekor ist, skeptisch gegenüber. 1931 engagiert Schott daher Wilhelm Wagenfeld als freiberuflichen Mitarbeiter und Produktgestalter, und er holt László Moholy-Nagy für eine zeitgemäße Werbung nach Jena.

Wilhelm Wagenfeld (1900 – 1990) hatte von 1923 bis 1924 in der Metallwerkstatt des Bauhauses in Weimar studiert und anschließend bis 1930 als Assistent in der Metallwerkstatt der Staatlichen Bauhochschule Weimar gearbeitet. 1931 entwirft er erstmals für Schott eine neue Teekanne – bis heute sein wahrscheinlich berühmtester Entwurf für Jenaer Glas. Die lange Tülle verleiht der Kanne Eleganz und bildet optisch einen Ausgleich zu dem weit geöffneten, bereits sehr funktionalen Henkel, dessen gebrochene Kreisform dem aufliegenden Daumen Halt bietet. Ein gepresster zylindrischer Deckel ohne Knauf betont die sachliche Strenge des Entwurfs.

Wagenfeld baut das Sortiment weiter aus: Soßengießer mit griffsicherem Henkel, die in der Untertasse nicht kippen können, Krüge für verschieden Zwecke, Suppentassen und Servierplatten entstehen als in die Hohlform geblasene Gläser. Dazu gestaltet er auch Geschirr aus stabilerem und schwererem Pressglas, vor allem Teller und Untersetzer. Gepresst werden auch die Brat- und Backformen, die ab 1935 die von Gropius kritisierten Modelle ablösen. Qualitäten wie Zeitlosigkeit der Form und guter Gebrauchswert allein hätten wohl für den Siegeszug des Jenaer Glases nicht ausgereicht. Ebenso wichtig war es, die Neuartigkeit, die ästhetischen und funktionalen Vorzüge dem Einzelhandel und vor allem der Kundin und dem Kunden zu vermitteln.

Für diese Werbeoffensive wird der Maler, Graphiker, Typograph und ehemalige Bauhauslehrer László Moholy-Nagy (1895 – 1946) als künstlerischer Berater verpflichtet. Er unterhält in Berlin ein Atelier für Auftragsarbeiten im angewandten Bereich, aus dem neben Werbegrafik und Ausstellungsentwürfen auch Bühnenbilder hervorgehen. In seinem Atelier arbeitet in diesen Jahren ein Team von Absolventen des Bauhauses und der Leipziger Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe, das seine Ideen und Entwürfe praktisch umsetzt.

Die Zusammenarbeit mit Schott währt auch über Moholy-Nagys Emigration nach Amsterdam (1934) bzw. London (1935) hinaus und endet erst, als er im Jahr 1937 die Leitung des "New Bauhaus – American School of Design" in Chicago übernimmt. Unter seiner Anleitung entstehen zwischen 1933 und 1937 über 50 verschiedene, ästhetisch reizvoll gestaltete und zum großen Teil im Mehrfarbendruck hergestellte Werbeentwürfe in Millionenauflagen. Darüber hinaus konzipiert Moholy-Nagy die gesamte Werbekampagne, einschließlich Schaufensterwettbewerben und Kochvorführungen, Einsatz von Filmen im Vorprogramm von Kinos und Rundfunkwerbung. Alle Werbemaßnahmen stellen den fortschrittlichen Charakter des neuen Hauswirtschaftsglases heraus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg führt die deutsch-deutsche Teilung zur Spaltung des Glaswerks. In Jena beginnt nach sowjetischer Demontage der Wiederaufbau des Glaswerks und mit Gründung des DDR die Umwandlung des Jenaer Glaswerks Schott & Gen. in einen "volkseigenen Betrieb". In Mainz wird ab 1951 unter der Leitung von Erich Schott ein neues Hauptwerk aufgebaut, Konzernzentrale der heutigen Schott AG. Die weltbekannte Marke "Jenaer Glas" bleibt eine feste Größe in der Produktkultur des Landes, und darüber hinaus ist sie eine der Marken, die den Ruf des "Made in Germany" in der Welt begründen. Die maschinelle Fertigung und die damit einhergehende Automatisierung der Produktion setzen ein. Heinrich Löffelhardt (1901–1979), ein Weggefährte und Mitarbeiter Wagenfelds, entwirft ein auf 15 Teile reduziertes Sortiment von Backschüsseln für die Fertigung auf automatischen Preßmaschinen. Wagenfelds Designklassiker werden parallel in Mainz und Jena durch neue, auf die maschinelle Fertigung abgestimmte Produktsortimente ersetzt.

Mit Jahresende 2005 wurde die Haushaltsglasfertigung in Jena eingestellt. Von der gläsernen Küche bleibt am Ende die Ceran® Kochfläche, mit der die Schott AG bis heute weltweiter Marktführer ist. Die Marke "Jenaer Glas" aber ist bis heute ein Synonym für moderne Produktkultur und ein Gattungsbegriff für feuerfestes Geschirr schlechthin. Dem Jenaer Glas war es gelungen, die in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts geknüpfte Verbindung von Industrie und Design fortzusetzen und damit eine Industriekultur zu etablieren, die den Maßstäben der Moderne gerecht wird.

Ausstellungskatalog: "Durchblick. Jenaer Glas, Bauhaus und die Küche als Labor." Hrsg. Monika Wenzl-Bachmayer. Mit Beiträgen von Angelika Steinmetz-Oppelland und Walter Scheiffele. Deutsch / englisch, ca. 96 Seiten, ca. 90 Abbildungen. Erhältlich im Museumsshop des Wagner:Werk Museums

Durchblick
Jenaer Glas, Bauhaus und die Küche als Labor
15. Mai bis 18. August 2012