Dunkirk

Zu Land, in der Luft und zu Wasser lässt Christopher Nolan den Zuschauer mit brillantem Sounddesign, furioser Kameraarbeit und perfekter Montage in die Evakuation von rund 300.000 britischen Soldaten aus der nordfranzösischen Stadt Dünkirchen im Frühjahr 1940 eintauchen. Mehr als die Rekonstruktion der historischen Ereignisse geht es dem Briten dabei darum, den Zuschauer hautnah die Angst der Soldaten und ihren verzweifelten Überlebenskampf erfahren zu lassen.
Nur kurz informieren ein paar Inserts über den historischen Hintergrund und schon beginnt auf der Tonspur im Hintergrund eine Uhr zu ticken. Mitten hinein geworfen wird man in das Geschehen, wenn vom Himmel fallende rote Flugblätter einem kleinen Trupp britischer Soldaten die Aussichtslosigkeit ihrer Lage in der weitgehend verlassenen nordfranzösischen Stadt Dünkirchen bewusst machen wollen. Sogleich geraten die Soldaten auch schon unter Beschuss durch den konsequent unsichtbar bleibenden Feind – nie ist hier von Deutschen oder Nazis die Rede. Einer nach dem anderen bricht tot zusammen, während die Kamera dem letzten Überlebenden nachhastet, bis sich für ihn und den Zuschauer der Blick auf den flachen Sandstrand öffnet, an dem rund 370.000 britische Soldaten auf ihre Evakuierung warten. Während der ganzen folgenden 107 Minuten wird man beinahe durchgängig im Hintergrund das Ticken der Uhr hören. Sie weist auf das Rennen gegen die Zeit hin, als die sich die Evakuierung der britischen Soldaten erweist. Fast namenlos bleiben die Figuren mit Ausnahme des Schiffsjungen George, spärlich bleiben die Dialoge, ganz auf Bewegung setzt der Film. Drei Schauplätze werden mit den Inserts "Die Mole", "Die See" und "Die Luft" eingeführt, mit großer Übersicht und perfekt kalkuliert wechselt Nolan zwischen diesen. Meisterhaft arbeitet er dabei auch mit der Zeitstruktur, indem er einerseits Ereignisse aus unterschiedlicher Perspektive und zeitlich verschoben mehrfach zeigt, andererseits den drei Handlungsebenen in etwa gleich viel Erzählzeit zugesteht, obwohl die erzählte Zeit für die Ereignisse an der Mole eine Woche, für die Überfahrt über den Ärmelkanal einen Tag und für den Flug der Spitfire eine Stunde beträgt. Schon brillant ist, wie hier auf der einen Seite die Zeit gedehnt und auf der anderen Seite gerafft wird, ohne dass dies zu einem Bruch in der Dramaturgie führen würde. Während an der Mole von Dünkirchen die britischen Truppen auf ihre Evakuierung warten, brechen von der nur rund 50 Kilometer entfernten englischen Küste auch zivile Fischerboote zur Rettung auf. Eines dieser Boote greift Nolan heraus, folgt seinem Weg, um auf einer dritten Erzählebene vom Luftkampf zu erzählen, bei dem zwei britische Spitfire-Piloten die angreifenden deutschen Sturzkampfbomber abzuschießen versuchen. Kein vorher und kein nachher gibt es, keine militärische Diskussionen in der Kommandozentrale, keine politischen Reden, keinen biographischen Background erhalten die Figuren, sind Stellvertreter für die namenlosen anderen Soldaten, auf Psychologisierung wird konsequent verzichtet. Damit einher geht der Verzicht auf eine klassische Handlungsentwicklung zugunsten einer bedingungslosen Konzentration auf das Hier und Jetzt. Hautnah lässt Nolan dafür den Zuschauer durch das brillante Sounddesign von Hans Zimmer und die furiose Kameraarbeit von Hoyte van Hoytema das Geschehen erfahren. Unbedingt im IMAX oder bei einer 70mm-Projektion sollte man den mit IMAX-Kameras auf analogem Filmmaterial gedrehten Film ansehen, denn nur dort werden die gestochen scharfen Bilder und die Tonkulisse ihre ganze Wirkung entfalten. Meisterhaft ist auch Nolans Arbeit mit Distanz und Nähe. Mit großen Panoramaaufnahmen des Strands von Dünkirchen vermittelt er immer wieder einen Überblick, um dann ins Detail zu gehen und den Zuschauer unmittelbar am Luftkampf oder der Notwasserung eines angeschossenen Jagdflugzeugs teilhaben und die Angst vor den Angriffen der Sturzkampfbomber ebenso intensiv erfahren zu lassen wie die in einem von einem Torpedo getroffenen Kriegsschiff zu ertrinken. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kriegsfilmen wird dabei auf detaillierte Darstellung von Gräueln und Verletzungen einzelner Soldaten verzichten. Kein Blut sieht man hier spritzen, keine zerfetzten Gliedmaßen. Vielmehr zielt Nolan auf einen Gesamteindruck ab, will möglichst realistisch die Angst vermitteln, die hier herrscht, und den verzweifelten Überlebenskampf, den ein Kriegsgeschehen immer mit sich bringt. Erschütternd erinnert er aber auch an die zahllosen Opfer, wenn Bombenangriffe Löcher in die Reihen der wartenden Soldaten reißen oder von einem sinkenden Schiff Geflohene verzweifelt in einem brennenden Ölteppich schwimmen, nur zwischen untertauchen und damit ertrinken oder verbrennen wählen können. Die historischen Ereignisse an sich interessieren Nolan kaum, auch wenn Flugzeuge und Schiffe ebenso wie die Uniformen und Waffen der Soldaten sorgfältig rekonstruiert wurden. Mehr um ein Spiel mit Spannungselementen, mit Dramaturgie und mit der Zeit, um die es schon im rückwärts erzählten Thriller "Memento", aber auch im "Traum-Film" "Inception" ging, als um historische Wissensvermittlung geht es dem 47-jährigen Regisseur. Als Action-Thriller und nicht als historischen Film sieht er folglich seinen Film, der im Grunde auch an einem anderen Ort und in einem anderen Krieg spielen könnte. Nur im Finale, in dem "Dunkirk" dann doch noch pathetisch wird, werden Überlegungen zum Kriegsgeschehen insgesamt angestellt, wird darauf hingewiesen, wie gerade dieses Desaster die Grundlage für den späteren großen Sieg darstellte.
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Trailer zu "Dunkirk"
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