Du musst nicht von allen gemocht werden

20. Juli 2019 Bernhard Sandbichler
ab/am 20.07.2019
Bildteil

Ichiro Kishimi und Fumitake Koga, zwei japanische Philosophen, beleben Alfred Adlers Individualpsychologie in klassischem Dialog wieder. Sie erzählen vom Mut, gängige Denkklischees zu durchbrechen und befreit daraus hervorzugehen.

Achse 1: Diagnose
Traumata, Veranlagung, soziales Umfeld: Sie entscheiden nicht über das eigene Leben; entscheidend ist die Bedeutung, die man ihnen zumisst. Das Maß der Dinge ist das Selbst: „Du bist derjenige, der entscheidet, wie du lebst.” Wer auf Lob und Anerkennung der anderen schielt, lebt das Leben der anderen. Das Leben hat keinen Sinn, man verleiht ihm Sinn.

Achse 2+3: Prognose + Entwicklung
„Egal, was bis jetzt in deinem Leben passiert ist, es sollte absolut keinen Einfluss darauf haben, wie du von jetzt an lebst.” Objektive Tatsachen sind unveränderbar, subjektive Interpretationen können verändert werden, so oft wir wollen. Alles eine Sache des Muts. Es geht darum, sich zu verändern, nicht die andern.

Achse 4: Intelligenz
Die Menschen sind alle gleichwertig, aber nicht gleich. Minderwertigkeitsgefühle durch was auch immer zu kompensieren, um als etwas Besonderes zu erscheinen, sind nichts als ein Überlegenheitskomplex. Sich auf konkurrenzielle Machtkämpfe einzulassen, andere zu kritisieren, ist ein Fehler. Sich vom Urteil anderer abhängig zu machen, ebenfalls. Noli amari aude!

Achse 5+6: Körper + Psyche
„Individuum” bedeutet etymologisch gesehen „unteilbar”. Adler war gegen ein dualistisches Wertesystem, das den Geist als getrennt vom Körper betrachtet, den Verstand getrennt von Gefühlen, das Bewusste getrennt vom Unbewussten, das Individuum selbst von der Gesellschaft. Gerate ich in Wut, dann nicht weil mich das Gefühl überwältigt, sondern weil ich damit eine Absicht verfolge. Argumentiere ich in die Gegenrichtung, entstehen unversehens Lebenslügen.

Achse 7: Alltag
Drei Lebensaufgaben muss man sich stellen: der Arbeit, der Freundschaft, der Liebe. Ihnen auszuweichen, nennt Adler „Lebenslüge”. Alles menschliche Leben ist Beziehung. Beziehungsprobleme werden im Allgemeinen dadurch verursacht, dass man sich in fremde Aufgaben einmischt oder zulässt, dass sich andere in die eigenen einmischen - selbst wenn es sich um Lob handelt. (Lob ist ein Urteil, das von einer fähigen Person über eine unfähige Person gefällt wird.) Eine klare Aufgabentrennung löst den Konflikt. Ermutigung ja, Ersatz nein. („Aiutami a fare da solo”, würde Maria Montessori sagen.) Erst wer weiß, dass er so für andere von Nutzen ist, wird sich seines Wertes bewusst: „Blicken Sie nicht in die Vergangenheit und nicht in die Zukunft. Man lebt jeden vollständigen Moment wie einen Tanz. Es gibt keinen Grund, mit jemandem zu konkurrieren, und Ziele braucht man nicht. Solange Sie tanzen, werden Sie irgendwohin kommen.”

Ichiro Kishimi, Fumitake Koga: Du musst nicht von allen gemocht werden. Vom Mut, sich nicht zu verbiegen. Aus dem Englischen von Renate Graßtat. Reinbek/Hamburg: Rowohlt Verlag 2018, 304 Seiten, EUR 10,30 - Der Folgeband, Du bist genug. Vom Mut, glücklich zu sein erscheint im Dezember 2019.