Drei Highlights bei Wien Modern

Im Tanzquartier O! A Biography mit Orchester, Tanz und Countertenor; in der Hofburgkapelle die Friedensmesse von Johanna Doderer; und in der Wohnung von Margarete Schütte-Lihotzky ein politisches Musiktheater mit dem Kollektiv Untere Reklamationsbehörde – Wien Modern geblockt auf zwei faszinierende, inspirierende Tage.

Ein zeitgenössisches „opéra ballet“ hat die Tänzerin und Choreografin aus Wien, Eva-Maria Schaller, geschaffen. O! A Biography beginnt mit den Anfängen einer Tänzerinnenbiografie „und begibt sich auf die Suche nach den Möglichkeiten des Fantastischen und Transformativen, die darin liegen. Wenn der Körper ein Archiv ist, dann ein chaotisches, voller hybrider Fragmente, fantastischer Realitäten, den Zeithorizont eines einzelnen Lebens sprengend“.

Die Komposition stammt von Matthias Kranebitter, der auch künstlerischer Leiter des Black Page Orchestra ist, dirigiert hat wiederum Irene Delgado-Jiménez. Namensgebend für das 2014 in Wien gegründete, für radikale und kompromisslose Musik unserer Zeit stehende Ensemble war Frank Zappas Komposition „the black page“, deren Partitur aufgrund der hohen Notendichte beinahe schwarz ist. „Niemand wird hier gezähmt, sondern Musik als transformative Kraft entfesselt. Matthias Kranebitter komponiert dieses unkontrollierbare Gebäude voller Räume, in denen sich durch den Akt des Teilens multiperspektivische Erinnerungswelten entfalten“, erläutert Eva-Maria Schaller.

Es fehlt irgendwie das Vokabular um wiederzugeben, was die fesselnde, staunend machende, betörende Performance auf der Bühne auszulösen vermag: Verdichtung und Auflösung bei den Tanzenden (Mani Obeya und Studierende des Studiengangs Tanz an der MUK), die durchdringende Stimme des Countertenors (Georg Bochow) und intensiv auflodernde Orchestermusik. Aber war die Doppelung der mitlaufenden Übertitel mit dolmetschender Gebärdensprache zur Bewusstseinserweiterung angelegt?

Sonntag früh stand die Friedensmesse der in Bregenz geborenen, in Wien lebenden, bedeutenden Komponistin Johanna Doderer auf dem Programm. Es war ein Kompositionsauftrag der Wiener Hofmusikkapelle und wurde ebendort aufgeführt, und ja, im Rahmen der Messfeier. Eindringlich das Kyrie, erzählend das Gloria, gebieterisch das Credo und diffizil Sanctus wie Benedictus. „Eigentlich ist es mein Bedürfnis, zurzeit nur mehr Werke für den Frieden zu schreiben. Dann stellt sich die Frage, was kann Musik? Kann sie überhaupt zu Frieden beitragen? Meine Antwort wäre ja. Nicht nur praktisch: Musik kann das Unausgesprochene sagen und Wahrnehmungen schärfen, berühren, die Menschen ‚seelisch öffnen‘, die Kraft und den Mut fördern, um zu einem friedlichen Miteinander zu stehen“, erklärt die Komponistin. Dargeboten wurde die Friedensmesse von den Wiener Sängerknaben mit wunderbaren Solisten aus Sopran und Alt sowie dem Herrenchor und Mitgliedern des Orchesters der Wiener Staatsoper.

Für eine spannende Performance öffnete das Margarete Schütte-Lihotzky Zentrum die Wohnungstür. Doch davor wurden die Angemeldeten zu einem gemeinsamen Spaziergang im Stadtviertel eingeladen und mit Kopfhören versorgt, die ein hoch politisches Audio mit Originalstatements und Aufrufen der Architektin wiedergaben. Die Wege kreuzten sich mit dem 1. Wiener Gemeindebauchor und machten neugierig auf Kommendes in der Wohnung von Margarete Schütte-Lihotzky, wo es dann von der Terrasse im sechsten Stock schon herunter klang. 

Mit der Bezeichnung Untere Reklamationsbehörde entwickeln Maria Huber (Dramaturgie) und Julia Mihály (Komposition) kollektiv mit projektbezogenen Gastkünstler:innen und Alltagsexpert:innen interdisziplinäre Musikperformances im öffentlichen Raum. Ein empirisches Musiktheater, bei dem räumliche Strukturen und soziale Architekturen unter die Lupe genommen werden. Ihre künstlerische Praxis verstehen sie als feministisch und als das Politische im Alltäglichen entdeckend: „Wie besetze ich Wohnraum in meinem Alltag? Wie klingen die eindrücklichsten Minuten meines Arbeitstages? Wie wollen wir leben, und welche gebauten Räume brauchen wir dafür? Wie können wir unsere privaten Orte für freundschaftliche Netzwerke öffnen? Können und wollen wir unseren Nachbar:innen bei ihrem Alltag zuhören?“

Aus Recherchen rund um historische Wohnutopien des RotenWien und des Neuen Frankfurt, die beide durch eine der ersten prominenten Architektinnen, Margarete Schütte-Lihotzky, maßgeblich geprägt wurden, aus kritischen Interviews mit Hausbesetzerinnen sowie autobiografischen Erzählungen entwickelt dieses Kollektiv neue akustische Narrative. So selbstverständlich werden die Gäste in der (inzwischen fertig sanierten) Wohnung der Architektin begrüßt, können die engagierten Diskussionen der Bewohnerinnen mitverfolgen, aus der Küche dringt akustische Begleitung, der Chor positioniert sich mit klanglichen Statements. Nachdenklich und inspiriert gehen wir von dannen – doch bitte nicht im Stiegenhaus klatschen … die Nachbarn!

Dass 50 Produktionen, 120 Veranstaltungen plus 23 Begleitveranstaltungen an 28 Spielstätten in 14 Bezirken und 50 Uraufführungen bei dem einen Monat dauernden Festival zu großen Teilen ausverkauft sind, zeigt, dass Musik Menschen zusammenbringt – und das ist die große Überschrift für den künstlerischen Leiter Bernhard Günther und das Team von Wien Modern. 

O! A Biography. Opéra-ballet mit Ensemble und Elektronik (2023–2024), Eva-Maria Schaller, Matthias Kranebitter, Tanzquartier Wien
Friedensmesse (2024) Johanna Doderer, Kompositionsauftrag Wiener Hofmusikkapelle
Margarete Schütte-Lihotzky [K]1 Zimmer Wohnung, Untere Reklamationsbehörde, Maria Huber, Julia Mihály, Franzensgasse 16, 1050 Wien