Im Vorarlberg Museum in Bregenz ist eine Sonderausstellung angelaufen, die sich mit der komplexen Vorstellungswelt des 1924 im deutschen Weißenfels geborenen und 2008 in Bregenz verstorbenen Künstlers, Designers und Philosophen Hasso Gehrmann auseinandersetzt. Einfühlsam zusammengestellt wurde die Schau vom Sohn des Künstlers Lucas Gehrmann sowie der beim Museum angestellten Kunsthistorikerin Ute Pfanner. Gehrmann war einer der seltenen Universalisten, bei dem sich Kunst, Philosophie, Design, Wissenschaft und Theorie zu einem komplexen, ineinander verzahnten Gesamtbild vereinten.
Denkt man jedoch an seine visuell-gestalterischen Leistungen, so rückt zunächst sein spektakuläres Konzept der "Totalen Wohnung" in das Bewusstsein, an dem er von 1968 bis 1973 gearbeitet hat. Und hier wiederum in erster Linie an seine vollautomatische "Gehrmann-Küche ETV " (Elektra Technovision), die er für Elektra Bregenz entworfen hatte. Unweigerlich fühlt man sich beim Betrachten der zahlreichen Entwürfe und Zeichnungen zu diesem Unterfangen an den Film "Mon Oncle" von Jacques Tati aus dem Jahre 1958 erinnert, in dem der französische Regisseur mit seinem typischen Beobachtungshumor und Alltagsironie erste Einblicke in eine hypermoderne Küche gewährt. Auch wenn in der von Tati präsentierten blitzsauberen Küche mit Bedienung auf Knopfdruck nach automatisierten Wendemanövern letztlich doch nur ein verkohltes Steak den mageren Output bildet. Bei Gehrmann ist natürlich kein Platz für verbrannte Steaks, zu durchdacht und ausgefeilt sowie ausformuliert sind seine „Erfindungen“ im Bereich der Alltagspraxis. Nicht umsonst wurde sein damaliger Küchenentwurf als „die Küche des 21. Jahrhunderts“ bejubelt, wie Hasso Gehrmann 2007 in einem Essay rekapitulierte. Grundsätzlich wandelte sich für ihn die Küche damals „vom größten Arbeitsplatz der Welt zum größten Atelier“.
Was Gehrmanns zeichnerischen Pläne, Skizzen und Exposés seiner Designvisionen, speziell auch in Bezug auf seine Küchenvorstellungen, zu etwas Besonderem macht, ist die individuelle Handschrift, die sie tragen. Die verwendeten formalen Elemente, die der Geometrie und dem Konstruktivismus entlehnt sind, und die Art, wie er sie einsetzt und koloriert, ergänzt durch die häufige Einbindung von Figuren, waren bei ihm typisch und unverkennbar in seinem malerischen und zeichnerischen Werk angelegt.
Noch nicht zwanzig Jahre alt, begann Hasso Gehrmann bereits während des Zweiten Weltkrieges intensiv zu zeichnen. Anhand von Bleistiftskizzen hielt er bis in die Zeit seiner Kriegsgefangenschaft hinein menschliche Schicksale und Charaktere anhand von realistischen Bleistiftskizzen dokumentarisch fest. Erst nach dem Ende des Krieges kam er erstmals mit der sogenannten „entarteten Moderne“ in Berührung. Davon tief beeindruckt, wich der Realismus einem stark expressiven Ausdrucksstil, den er ab 1946/47 sukzessive reduzierte, in dem er in der Folge die Darstellung der Wirklichkeit auf das Notwendigste beschränkte. Dennoch: „Sein Augenmerk richtete sich weiterhin auf das ‚Existenzielle‘, auf Schmuggler (‚Schieber‘) zwischen Kriegsruinen und US-Army-Streifen, auf Hafen- und Fabrikszenarien ebenso wie auf die ersten Jazztanz-Nightclubs, die die Amerikaner in ihren Besatzungszonen betrieben.“ (Lucas Gehrmann: Zur Zeichnung und Malerei Hasso Gehrmanns nach 1945. 2009, http://www.kunstfreiraum.com)
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1949) belegte Hasso Gehrmann Kurse in Bildender Kunst bei Karl Trummer an der Freien Akademie Mannheim sowie bei Willi Sohl an der Kunst-Fachschule Darmstadt. Gleichzeitig studierte er Philosophie bei Karl Jaspers und Kunstgeschichte bei Gustav E. Hartlaub an der Universität Heidelberg. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit kartografischen Tätigkeiten für die amerikanischen Besatzer. 1949 heiratete er die Goldschmiedin und Malerin Signe, mit der ihn zeitlebens eine gegenseitig befruchtende Partnerschaft verband. Gemeinsam organisierten sie in ihrem Heidelberger Wohnatelier, das von Gehrmann mit zeichenhaften Figuren ausgestaltet worden war, Diskussionsforen zu Kunst, Philosophie, Jazz und Film.
Ab 1949 begann er mit seinen Versuchen, anhand von „Zeichentafeln“ und Kompositionen eine Bildsprache zu entwickeln, die frei von narrativen Bedeutungsräumen war, um einem bis dahin unerschlossenen Segment der „Gestaltungssyntax“ nachzuspüren. Im biografischen Lexikon zur Vorarlberger bildenden Kunst heißt es dazu: „Philosophisches und künstlerisches Angehen des Vorhabens. Kommt 1949 zum Zwischenbefund: Die exakte Wissenschaft verschließt, die abstrakte moderne Kunst erschließt den Zutritt zum Gesuchten. Einsicht: Das Industriedesign transformiert Kunstprinzipien in die Soziologie.“ (Bildende Kunst in Vorarlberg 1945–2005, Biografisches Lexikon, Hrsg: Vorarlberger Landesmuseum und Kunsthaus Bregenz, 2006, S. 109.)
In der Tradition der klassischen Moderne
Von der „entarteten Moderne“ stark berührt, setzte sich Hasso Gehrmann künstlerisch mit allen zentralen Strömungen der klassischen Moderne auseinander. So etwa mit dem Konstruktivismus, dessen Begriff auf das lateinische Wort „constructio“, also Zusammenfügung oder Bau, verweist. Der Konstruktivismus vertrat ein räumlich-technisches Gestaltungsprinzip mit Farbflächen, Linien und geometrischen Grundformen und entstand parallel zum Dadaismus und zum Futurismus. Die Hauptvertreter waren die Künstler:innen der Russischen Avantgarde. Hätte Hasso Gehrmann den Konstruktivismus in seiner ihm eigenen analytischen Diktion weitergeführt, so wäre er unweigerlich wieder auf das berühmte Werk "Schwarzes Quadrat auf weißem Grund" von Kasimir Malewitsch zurückgekommen. (Meinte sein Sohn Lucas Gehrmann im Gespräch am XX.2024). Um genau dies zu vermeiden, habe der Künstler unter anderem immer wieder figurative Elemente in seine Gemälde und Zeichnungen integriert.
So wird denn auch offenkundig, dass es im gesamten Werkverlauf Gehrmanns nie eine strenge Kontinuität von figurativer zu abstrakter und wieder figurativer Darstellung gibt, sondern dass beide Möglichkeiten parallel möglich sind. „So konnten während der Phase seiner abstrakten Ölbilder in den 1950er-Jahren gänzlich klassisch-figurative Zeichnungen entstehen, wie auch umgekehrt ab 1990 wieder abstrakte Ölbilder und in der Folge auch gegenstandslose Papierarbeiten auftauchen. Ihnen allen gemeinsam ist ein ausgeprägtes Gefühl für ‚kompositorische‘ Korrespondenz von Linien, Formationen, manchmal Raum-Öffnungen und Farbakzenten.“ (Lucas Gehrmann: Zur Zeichnung und Malerei Hasso Gehrmanns nach 1945. 2009, http://www.kunstfreiraum.com)
Einen überaus starken Einfluss auf das bildnerische und gestalterische Schaffen von Hasso Gehrmann hatte der Kubismus, der zusammen mit dem Fauvismus die Klassische Moderne im eigentlichen Sinne einleitete und zu dessen Hauptvertretern Georges Braque (1882–1963) und Pablo Picasso (1881–1973) zählten. Aus heutiger Sicht stellt der Kubismus wohl die revolutionärste Neuerung in der Kunst des 20. Jahrhunderts dar, die eine völlig neue Denkordnung in der Malerei schuf. Die Bibliografie zum Kubismus, dessen Begriff sich aus dem französischen „cube“ respektive dem lateinischen „cubus“ für „Würfel“ ableitet, ist umfangreicher als zu jeder anderen Stilrichtung. Ein wesentliches Kriterium des Kubismusʼ ist, dass die geschlossene Form der dargestellten Körper zugunsten des Formenrhythmus aufgebrochen wurde. Die Körperlichkeit der Dinge und ihre Lage im Raum konnten auf diese Weise dargestellt werden, ohne sie durch illusionistische Mittel wie etwa dem Einsatz von Licht und Perspektiven vorzutäuschen. Ein Faktum, das im gesamten malerischen und zeichnerischen Werk Gehrmanns immer wieder sichtbar wird.
Während eines Aufenthaltes in Paris 1951, wurde Hasso Gehrmann im Alter von gerade einmal 27 Jahren Mitglied und Aussteller im legendären Salon des Réalités Nouvelles. Réalités Nouvelles bedeutet neue Realitäten und bezieht sich auf eine Ausstellungsgesellschaft, die 1939 in Paris von Sonia Delaunay gegründet wurde. Dieser Salon widmete sich der Förderung der abstrakten Kunst, die als neue Realität betrachtet wurde, weil sie die bestehende physische Welt nicht imitiert. Die Bewegung betonte, dass die abstrakte Kunst ihre eigene Realität schaffe, unabhängig von der Außenwelt, und spielte eine wichtige Rolle bei der Entwicklung und Anerkennung der abstrakten Kunst in der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Hier lernte Gehrmann auch Georges Braque persönlich kennen und ließ sich durch dessen Art der Objektauflösung zeitlebens inspirieren. Eminent wichtig wurde für Hasso Gehrmann auch Braques „Mitstreiter“ Pablo Picasso und dessen Art Objekte und Figuren zu dekonstruieren und zusammenbrechende und sich auflösende Formen mit figurativen Elementen zu überschneiden. Tuschzeichnungen wie "Antikes Paar" (1956) oder "Chaos" (um 1963) erinnern etwa an Gehrmannsche „Settings“, die ohne weiteres in Picassos Meisterwerk "Guernica" passen würden.
Auch den deutschen Maler, Grafiker, Typograf, Kunsttheoretiker und Autor Friedrich Wilhelm Baumeister (1889–1955), kannte Hasso Gehrmann persönlich und er übte entsprechende Einflüsse auf sein bildnerisches Werk aus. Baumeister wurde nach 1945 zum Wortführer in der Auseinandersetzung um die Moderne in Deutschland. Er galt als Anwalt einer „abstrakten“ Malerei und wurde als solcher ebenso hoch geschätzt wie kontrovers diskutiert.
Das später auch der Bildkosmos von Paul Klee für Gehrmann bedeutsam wurde, lässt sich an zeichnerischen Kompositionen wie "Zwiegesicht" (Tusche und Aquarell auf Papier, 1993) oder "Kopf" (Mischtechnik auf Papier, 1993) nachvollziehen.
Die Zeichnung als Anfang aller Bildgedanken
Die Zeichnungen von Hasso Gehrmann dienen sehr unterschiedlichen Funktionen und Intentionen. Sie reichen von Ideenskizzen über Entwurfspläne für Designprojekte über Vorstudien für große malerische Arbeiten bis hin zu eigenständigen Werken. Der Künstler selber über diese Disziplin: „Die Zeichnung war mir immer mindestens so wichtig wie die Malerei, sie stand stets am Anfang aller Bild-Gedanken und (Er-)Findungen. Speziell in der Zeichnung ist auch die Suche nach der ‚Grammatik‘ der Gestaltung, der künstlerischen Artikulation, erkennbar.“ (In: Lucas Gehrmann: Zur Zeichnung und Malerei Hasso Gehrmanns nach 1945. 2009, http://www.kunstfreiraum.com)
Die in Buenos Aires lebende, international tätige Kuratorin Victoria Noorthoorn geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt die Zeichnung als das fundamentale Medium in der zeitgenössischen Kunst dar: „Zeichnung entwirft etwas in die Zeit und in den Raum hinein und transportiert die Vorstellungskraft des Künstlers, genauso wie seine Ideen über Kunst, die Welt und seine eigene gesellschaftliche Situation. Eine Zeichnung ist reine Wahrheit oder – wenn wir Oscar Wilde folgen – reine Lüge. Aber sie täuscht uns nie, verstellt sich nicht. Sie ist ein Medium, das seine Kraft und Komplexität über die eigene Materialität – Papier – hinaus entwickelt und seine Eigenständigkeit und Parameter immer wieder selbst in Frage stellt. Zeichnung impliziert Transzendenz. Sie bildet die Grundlage für ein Projekt, in dem die unterschiedlichsten Disziplinen und Arbeitsweisen Zusammenkommen. (…) Zeichnung ist wahrscheinlich jene Disziplin, die am deutlichsten das Denken des Künstlers während des kreativen Prozesses sichtbar macht.“ (Victoria Noorthoorn in der April-Ausgabe DB-Artmagazins 2013)
In einem Leserbrief Gehrmanns zu seiner Ausstellung, den die Vorarlberger Nachrichten am 20. August 1994 abdruckten, fasste der Universalist sein ganzheitliches Schaffen komprimiert so zusammen: „Die Konsequenz der großen Stunde der Freiheit lautete zunächst ‚Expressionismus‛, 1949 ‚ungegenständliche Malerei‛. Die Heidelberger Uhr tickte bereits in Richtung Futurologie. Heidelberg hieß Philosophie. Betreffs Kunst: Hinterfragen der Botschaft der Moderne. Die Moderne machte die Chiffren der Gestaltung zwar transparent, jedoch noch nicht systemtheoretisch ergreifbar. Mein heutiges Konzept ‚Multilogik – Metakunst‛ hat in jenen Jahren seinen Ursprung. Der Ruf an die AEG machte mich zum Mitbegründer der diesbezüglichen Stunde Eins. (...) Das Mißglücken einer praktischen Tangente der alten Heidelberg-Vision verschüttete jedoch nicht den theoretischen Hintergrund. Ich hatte bereits die Sparte ‚theoretisches Design‛ vom Bereich ‚praktisches Design‛ separiert. In den letzteren reihe ich auch wieder die Malerei (und die Zeichnung (Anm. des Autors)) mit ein, weil man bei dieser auf die Quellen des Gestaltungsgeschehens stößt. In ersterem, das sich als Forschung ausnimmt, analysierte ich die Gestaltungs Multilogik (mit Hilfe der eigens konzipierten subjektiven Geometrie). Dort erlangte die Vision Metakunst bald deutliche Konturen. Es versteht sich, daß die gezeigte Arbeit meiner fortbestehenden Malerei zugehört, bei der das alte Handwerk sogar wieder eine Bildthematik toleriert.“ (Vorarlberger Nachrichten, 20.8.1994)
Hinzu kommt, dass das ganzheitliche Denken, das aus allen Koordinaten des Gehrmannʼschen Œuvres hervortritt, vor allem in der Zeichnung sichtbar wird. Das zeichnerische Werk ist Spiegel seiner Gedankenwelt und legt dar, wie seine Kunst entsteht. So, wie Gehrmann gedacht hat, führte er auch den Bleistift oder die Tuschfeder.
Klar ist, dass der Künstler Gehrmann in die Tradition der Klassischen Moderne einzureihen ist. So schätzte er die ganz Großen ihrer Zeit wie Picasso, Braque, Baumeister und Klee, aber auch Le Corbusier und das Bauhaus insgesamt und bewegte sich im Gleichschritt mit diesen Positionen. Dennoch entwickelte er einen unverkennbaren und unverwechselbaren „Stil“, „der sich einerseits im ‚Strich‘ (der Zeichnung) zu erkennen gibt, der aber sehr stark auch mit seiner Suche nach der ‚Grammatik‘ der Gestaltung zu tun hat. Diese Suche hat Hasso Gehrmann nicht allein auf rein bild-künstlerischem Weg bestritten, sondern auch über das (angewandte) Design und über eine spezielle philosophische Form, die er ‚Subjektive Geometrie‘ nannte." (Lucas Gehrmann in der Presseaussendung zur Ausstellung von Hasso Gehrmann in der Galerie.Z, Hard, 2009)
In der Möglichkeit, Gedanken zu visualisieren und als Bildfindungsbrücke für Ideen und Vorstellungen spielt die Zeichnung im Werk Hasso Gehrmanns eine grundlegende Bedeutung. Andererseits ist sie nur eine von vielen Disziplinen und Vorgehensweisen, in denen sich das ganzheitliche Konzept des Künstlers manifestiert. Der Schweizer Künstler und Autor Stefan M. Seydel, der in der Blogger-Szene unter dem Kürzel „SMS“ bekannt wurde, brachte dies 2007 auf der von ihm gegründeten Online-Plattform „Rebell.tv“ auf leicht verständliche Weise auf den Punkt: „hasso gehrmann zeichnet. malt. konstruiert. bastelt. erfindet neue wörter. fabuliert. formuliert. hasso gehrmann macht kunst. technologie. wissenschaft. hasso gehrmann gestaltet. wendet an. stellt fragen (…), hat sich seinen eigenen wahrnehmungen gestellt und einen weg gefunden, wie das, was sich ihm dargestellt hat, uns zur vorstellung zu bringen ist.“ (Stefan M. Seydel: Rebell.tv (2007).
Kunst, Design und Philosophie bilden in Hasso Gehrmanns Werk desgleichen einen „Verein“. In der Ausstellung im Vorarlberg Museum, die erstmals alle drei Schaffensbereiche aus sechs Lebensjahrzehnten mit über 80 ausgewählten Werken zur Darstellung bringt, sind sie abschnittsweise auch für sich zu betrachten.
Hasso Gehrmann (1924–2008). Künstler, Designer und Philosoph
Vorarlberg Museum, Bregenz
Bis 17.8.
Kuratorenteam: Lucas Gehrmann u. Ute Pfanner
Di- So 10-18
Jeden 1. Donnerstag 10-20 (ab 17.00 Eintritt frei)
https://www.vorarlbergmuseum.at