Nicht der selbstlose Einsatz sogenannter "Trümmerfrauen" befreite Wien nach dem Krieg von Schutt und Trümmern, sondern zur Arbeit verpflichtete Männer und Frauen, meist ehemalige NSDAP-Mitglieder.
Das zeigen Forscher:innen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften anhand von bislang kaum ausgewerteten Quellen zu den Jahren 1945 und 1946. Ihre Analyse zeigt auch, wie aus der erzwungenen Trümmerbeseitigung nach und nach der Mythos der freiwilligen Frauenarbeit wurde - und damit ein neues Opfernarrativ entstand.
Zerstörte Brücken, zerbombte Häuser, unterbrochene Versorgungsnetze - Wien bot nach dem Zweiten Weltkrieg das gleiche Bild der Verwüstung wie viele andere Städte Europas. Mit Schaufeln und bloßen Händen räumten Männer und Frauen den Schutt beiseite. Doch die meisten von ihnen taten dies nicht freiwillig. Es waren ehemalige Nationalsozialist:innen, die per Gesetz zur Trümmerbeseitigung verpflichtet wurden.
Doch Jahrzehnte später hat sich ein anderes Bild durchgesetzt. 2018 wurde in Wien ein Denkmal für die "Trümmerfrauen" enthüllt, begleitet von politischen Reden des damaligen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache von der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) über ihren angeblich selbstlosen Einsatz. Ein Forschungsteam der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) - bestehend aus Martin Tschiggerl, Lea von der Hude und Patricia Seifner - hat nun bisher kaum erschlossenes Quellenmaterial ausgewertet. In ihrer Studie, die im Austrian History Yearbook bei Cambridge University Press veröffentlicht wurde, zeigen sie, dass dieser Mythos erst spät entstanden ist - und wenig mit der historischen Realität zu tun hat.
"In der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es nicht nur einen Mangel an potenziellen Arbeitskräften, sondern auch einen Mangel an Bereitschaft in der Bevölkerung, sich an den Aufräumungsarbeiten in der zerstörten Stadt zu beteiligen. Eine per Verfassungsgesetz beschlossene Arbeitspflicht sollte Abhilfe schaffen. Betroffen waren in erster Linie ehemalige NSDAP-Mitglieder", erklärt Martin Tschiggerl, Studienautor und Historiker am Institut für Kulturwissenschaften der ÖAW.
Entgegen der landläufigen Meinung war die Trümmerbeseitigung in Wien also keineswegs eine freiwillige Initiative von Frauen. Vielmehr spielten freiwillige Helferinnen eine untergeordnete Rolle. Auch das Bild einer rein weiblichen Trümmerbeseitigung ist falsch. Die Studie zeigt, dass sowohl männliche als auch weibliche NSDAP-Mitglieder zu dieser Arbeit herangezogen wurden und Millionen von Arbeitsstunden leisten mussten. Der Begriff "Trümmerfrauen" ist daher irreführend und spiegelt die historische Realität nicht wider, so die Forscher:innen.
Doch wie und wann konnte sich aus dem Zwang zur Trümmerbeseitigung ein spezifisch österreichisches Bild der selbstlosen "Trümmerfrau" entwickeln?
Zunächst brauchte es Zeit. Martin Tschiggerl: "Bis in die späten 1980er Jahre tauchte der Begriff in Bezug auf österreichische Frauen in der öffentlichen Debatte so gut wie gar nicht vor. So wirklich etablieren konnte er sich erst im Zuge der 1990er und 2000er Jahre. Erst die Erosion des österreichischen ''Opfer-Mythos'' schuf Platz für die österreichischen Trümmerfrauen als neues Opfernarrativ. Tatsächliche Entbehrungen der Nachkriegszeit wurden in eine mystifizierende Erzählung von Heldenmut und Opferbereitschaft eingewoben, in der die NS-Zeit einmal mehr ausgeblendet werden konnte."