Die Stadt als "Hauptdarstellerin"

Ein ungewöhnlicher Ausstellungsparcours mit exemplarischen Sequenzen aus rund 80 österreichischen und internationalen Spielfilmen, die filmspezifische Bilder der Stadt enthalten – von der Stummfilmzeit bis heute. Berühmte Filme, deren Images in die Stadterinnerung einflossen, sind in der Ausstellung "Wien im Film. Stadtbilder aus 100 Jahren" ebenso vertreten wie fast unbekannte.

Zu sehen sind u. a. Sequenzen aus "Die freudlose Gasse" von G. W. Pabst (1925), Erich von Stroheims Drama "The Wedding March" (1928), "Wiener Blut" (Willi Forst, 1942), dem Klassiker "The Third Man" (Carol Reed, 1949), "Kassbach" (Peter Patzak, 1979) sowie aus jüngeren Streifen wie "Before Sunrise" (Richard Linklater, 1995) und "Nordrand" von Barbara Albert (1999). Ob realistisch oder konstruiert, ob im Stadtraum oder im Studio gedreht: Zeittypische Wienbilder und Motive werden etabliert und konterkariert, Veränderungen des Erscheinungsbildes Wiens und der Stadtwahrnehmung sichtbar.

Auf der Weltkarte des Kinos hatte Wien neben Paris, Berlin oder New York lange einen festen Platz. Kaiserliches Wien, Walzer-Seligkeit und kleinbürgerliche Idylle: Damit konnte man große Film- Geschichten erzählen, eingebettet in den Mythos Wiens als Stadt der Liebe und der Musik. Nach 1945, im Kalten Krieg, wurde die geteilte Trümmerstadt zum Schauplatz düsterer Spionagethriller. Seit 1970 sind es vornehmlich österreichische Produktionen, in denen Wien neu ins Blickfeld kommt, diesmal aber gebrochen und mit Sensibilität für soziale Schattierungen: Die Stadt als disparate urbane Landschaft. Waren einst die Paläste und Gassen von Alt-Wien beliebte Kulissen, so ist heute die Peripherie topografisches Leitmotiv.

Die Ausstellung erschließt das Thema in neun Bereichen, wobei es gleich zu Beginn um die Attraktivität der Stadt für den Film geht. Tempo, Bewegung, Licht, Nacht, Glas, die Effekte von Ausund Einblick, Spiegelung, Verdoppelung oder Brechung faszinieren Filmschaffende und Publikum. Während Filme mit geringerem Produktionsbudget im Stadtraum gedreht werden (und damit dessen schwer kontrollierbaren Effekten ausgesetzt sind), baut das "reiche Kino" in den Studios die Stadt nach. Ob Kulisse oder nicht: Das Kino geht mit der Topografie Wiens freizügig um. Es montiert tatsächlich entfernte Orte aneinander, macht eine Stadt zu einer anderen. Wien "spielte" nicht nur Wien, sondern diente auch als Kulisse für Szenen, die eigentlich in Moskau, Bratislava oder Paris angesiedelt sind.

Zunächst bevorzugt das Kino die Paläste der Aristokratie und ihrer bürgerlichen Epigonen. Im Kontrast dazu steigt es in die Kellerquartiere der Elenden und in die Mansardenwohnungen der Bohème. Die Höfe von Alt-Wien zeigen Behaglichkeit, aber auch Beschränktheit und politische Erstarrung. Später sind es die Kleinbürger, die sich in Greißlereien zäh gegen ihre zunehmende Bedeutungslosigkeit zur Wehr setzen und dann die Siedlungen an der Peripherie, die die Aufmerksamkeit einer forschenden Kamera auf sich ziehen. Gemeinsam ist vielen der Wiener Milieus ihre Nähe zum sozialen Abgrund. Diesen zu erkennen, bleibt aber zumeist ein Privileg der Betrachter/innen.

Die reale Topografie der Stadt verwandelt sich im Kino in eine Topografie der Gefühle und Stimmungen. Es gibt "standardisierte" Orte, die das Kino aufsucht, um große Gefühle zu erzählen. Auf den Kahlenberg pilgern die Liebenden, die mit dem Blick über die Stadt auch in die Zukunft blicken, im Prater lernt man sich kennen und gibt sich dem erotischen Spiel hin. Verzweifelte und Lebensmüde finden Zuflucht im unübersichtlichen Terrain des Donaukanals. Gemeinsam ist diesen Orten eine Alltagsferne und ihr Lage oberhalb oder unterhalb des normalen Niveaus der Stadt. Ihre ursprüngliche Nutzung bleibt indes oft unklar oder überholt. Doch diese Topografie des Gefühls ist keineswegs festgeschrieben, sondern in Bewegung. Im Zusammenspiel der komplexen Techniken des Kinos werden die Bedeutungen von Orten regelmäßig verschoben und ihre emotionalen Qualitäten verändert. Ein Monument der Unterdrückung kann zu einem Ort der Freiheit und Zuflucht werden.

Weiters geht es in der Ausstellung um zwei Wien-Klischees: dem Walzer und dem Wiener Herz. Die Walzerstadt Wien ist keine Erfindung des Kinos, aber wie kein anderes Medium setzte der Film lange Zeit erfolgreich auf dieses Bild der Stadt. Die Geschichten, die sich um den Walzer und seine Musik drehen, erzählen nicht nur von der Leichtlebigkeit und dem besonderen Temperament der Wienerinnen und Wiener, sondern auch von ungleichen Liebesgeschichten, von missverstandenen Genies und den Möglichkeiten, die soziale Ordnung zumindest für die Dauer eines Tanzes außer Kraft zu setzen. Der Walzer gab dem Film Gelegenheit für opulente Ausstattungen und inspirierte die Kamera regelmäßig zu furiosen Bewegungen, zu sehen in Willi Forsts "Operette" (1940) und "Wiener Mädeln" (1944/49) oder in Billy Wilders "The Emperor Waltz" (1948). Die große Bedeutung des Walzers legte auch seine provokante Verwendung nahe: Walzer wurden dann zerhackt und mit bitteren Bildern unterlegt, wie in Peter Patzaks Pop-Thriller "Zerschossene Träume" (1976).

Das so genannten Wiener Herz und die Mentalität der Wienerinnen und Wiener wurde im Kino lange als Bewegung zwischen Selbstbescheidung und äußerer Beschränkung beschrieben. Ihre Orte sind der Heurige, das Gasthaus, der Prater. Implizit erzählen diese Geschichten von einer starken herrschenden Ordnung und der Kunst, sich damit zu arrangieren. Das bringt auch eine besondere Form der Erregung hervor: den Wutausbruch, der aber regelmäßig die Falschen trifft und zumeist so schnell vergeht, wie er entstanden ist. Die Wiener Ordnung verästelt sich feingliedrig in der Mentalität und tritt in verschiedener und wechselnder Gestalt in Erscheinung. Die eigentlichen Ordnungshüter sind demgegenüber oft harmlos. Das Volk ist wankelmütig, das Herz oft schwarz.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt das internationale Kino die geteilte und in Trümmern liegende Stadt als Handlungsraum für Kriminal-, und Agentenfilme. Das Wien im Film Noir ist ein düsterer und klaustrophobischer Ort der Schieber, Agenten und Entwurzelten. Statt der imperialen Pracht fing die Kamera Ruinen ein, Durchgangshäuser, zerbombte Palais, feuchtes Kopfsteinpflaster in menschenleeren Straßen, sowie erste Anzeichen für den Wiederaufbau. Diese Wien-Bilder finden ihren Nachhall in einer Serie internationaler Agententhriller, die in den 1960er- und 1970er-Jahren Wien auch filmisch als Drehscheibe zwischen Ost und West etablieren. Unbemerkt von der Bevölkerung gehen amerikanische, russische, französische Spione und Killer ihrem einsamen Geschäft nach. Beschattet, gejagt, gestorben wird in Stiegenhäusern, Hinterhöfen, U-Bahnschächten. Das Unbehagen an der Nachkriegs-Ordnung bringt seit dem Ende der 1960er Jahre einen neuen beobachtenden und forschenden Blick hervor. Dieser richtet sich nicht zufällig auf die bedrohten Reste der einstigen Metropole, auf das Wien der Zeit um 1900, auf die Stadt der Gründerzeit und ihre städtebaulichen Hinterlassenschaften. Es ist ein vorwurfsvoller und zugleich melancholischer Blick, der die Frage nach dem verlorenen Potential der Stadt mit jener nach historischer Schuld und dem Auftrag zur Erinnerung verknüpft.

Das Kino der Avantgarde räumt unbeeindruckt Wien-Klischees beiseite. Doch es geht etwa in Antonis Lepeniotis "Stadtbahn" (1966) oder Hans Scheugls "Wien 17, Schumanngasse" (1967) um mehr als nur um Gegenbilder. Mittel und Möglichkeiten des Kinos – der Apparat, die Wahrnehmungsbedingungen, das Filmmaterial – werden ausgelotet und erprobt. Die Stadt steht unter Beobachtung und gleichzeitig das Medium selbst. Wien-Bilder entstehen, die nach musikalischen Strukturen montiert sind, die pulsieren. Orte werden aufgesucht, die abgelegen und widerspenstig sind. Ein Wien wird sichtbar, so zornig wie poetisch, so geordnet wie unordentlich.

Die Frage nach der "Identität" der Stadt beantwortet das Kino der jüngeren Vergangenheit schließlich auf verschiedene Weise. Ist Wien eine neue Metropole, die ihre Faszination in den Zonen des Übergangs, der Vernetzung von Kulturen und Stilen zeigt? Oder eine stinknormale Stadt, die auf ihre tatsächliche Bedeutung geschrumpft ist? Welche Bedeutung haben die Traditionen? Am Ende der Ausstellung steht Wien selbst zur Disposition. Sind überhaupt noch Bilder möglich, die mehr zeigen als einzelne Orte?

Wien im Film. Stadtbilder aus 100 Jahren
27. Mai bis 19. September 2010