Die Sinnlichkeit der Vaseline

Anish Kapoor hat in Deutschland zuletzt 1991 im Kunstverein Hannover und 1996/1997 in der Kunst-Station Sankt Peter in Köln ausgestellt. Für eine umfassende Einzelausstellung im Haus der Kunst hat der in London ansässige Künstler nun eigens eine neue Arbeit geschaffen: "Svayambh" entstand als Antwort auf die Monumentalarchitektur des Hauses. Der Titel der Arbeit und der Ausstellung bezieht sich auf das Wort "svayambhu(v)" in Sanskrit, das "von einem selbst erzeugt" oder "selbst erzeugt" bedeutet.

"Svayambh" ist ein tiefroter, wachsartiger Klotz, der fast unmerklich über ein Gleissystem gleitet, das sich von einer Seite des Ostflügels zur anderen erstreckt. In seiner Ähnlichkeit mit einem Zug reflektiert es Kapoors Begeisterung für Andrej Kontschalowskis Film "Runaway Train" (1985), in dem zwei entflohene Häftlinge und eine Eisenbahnerin in einem Zug ohne Bremsen oder Zugführer gefangen sind. "Svayambh" durchquert zwei Durchgänge, die den Klotz durch ihre restriktiven Rahmen formen und gewaltsam zu pressen scheinen, sodass er schmierige Spuren seiner Substanz hinterlässt: eine Mischung aus Vaseline, Farbe und Wachs. Die enorme rote Masse, die an verdichtetes Blut erinnert, evoziert ein nahezu apokalyptisches Bild. Interessanterweise wird eine rote Färse, "parah adumah" - wobei "adom" auf Hebräisch "rot" bedeutet und "dam" "Blut" im Judentum oft mit der Apokalypse assoziiert.

"Svayambh" steht in direktem Bezug zu einer weiteren ortspezifischen Arbeit, einer "Wunde" bzw. einem Schlitz von etwa anderthalb Metern, den Kapoor direkt in eine Wand schneiden wird. In einem Gebäude wie dem Haus der Kunst mit seiner zum Teil belasteten Geschichte haben derartige Bilder umso stärkere Konnotationen.

In Kapoors Arbeit besteht von Anfang an eine Spannung zwischen der Vielschichtigkeit der Wahrnehmung des Auges und der Derbheit des Körpers bzw. dem Innenleben der Organe, ebenso wie zwischen "Gemachtem" und "Ungemachtem", Grobheit und Raffinesse; all dies sind Kräfte der Natur. In Kapoors Schaffen ist die Materie von zentraler Bedeutung, allerdings stets verbunden mit einer Idee von Präsenz und Spiritualität, welche die oberflächliche "Tatsächlichkeit" des Objekts übersteigt. In Kapoors Worten: "Materie führt in gewisser Weise immer zu etwas Immateriellem". Er betrachtet dies als zwar fundamental widersprüchliche, dabei aber stets komplementäre Bedingung der materiellen Welt. Besonders deutlich werden diese dialogischen Kontraste in Kapoors Arbeiten für den öffentlichen Raum, die in den letzten Jahren entstanden sind. Trotz ihrer oft monumentalen Ausmaße wird durch ihre organischen, biomorphen Formen eine Stimmung atmosphärischer Sinnlichkeit, ja Sexualität erzeugt.

Solche biomorphen Formen finden sich auch zunehmend in der zeitgenössischen Architektur. Kapoor war selbst an mehreren Architekturprojekten beteiligt. Eines der ersten Beispiele ist "Descent into Limbo" für die documenta IX im Jahr 1992. Vor Kurzem hat er für eine U-Bahn-Station in Neapel ein Projekt mit dem Architektenkollektiv "Future Systems" fertig gestellt; ebenfalls sehr bekannt ist die Installation "Marsyas", die er für die Turbinenhalle der Tate Modern in Zusammenarbeit mit dem Bauingenieur und Schriftsteller Cecil Balmond realisierte.

Die Ausstellung umfasst neben anderen, ebenfalls neueren Arbeiten auch frühe wie "To Reflect an Intimate Part of the Red", eine 1981 entstandene Gruppe von Standobjekten, die mit Pigmenten in Rot und Gelb bedeckt sind. "Yellow" von 1999 etwa droht den Besucher mit seiner großformatigen konkaven gelben Wand zu verschlingen. Noch später entstanden sind "S-Curve" (2006), ein 10 x 2,5 m großes Werk aus poliertem Edelstahl, dessen gewellte S-Form den Betrachter mehrfach spiegelt, und "C-Curve" (2007), das Betrachter und Umgebung reflektiert und zugleich verzerrt. Beide Arbeiten erscheinen fast kinematografisch, man fühlt sich wie in einem Film. In jüngster Zeit hat Kapoor an einer Serie von teils verspiegelten, teils undurchsichtigen Kugeln in unterschiedlichen Farben gearbeitet, die in verschiedener Höhe an der Wand angebracht sind.


Mitte November erscheint im Prestel Verlag eine Veröffentlichung mit farbigen Abbildungen der im Haus der Kunst entstandenen Arbeiten; in Englisch, mit einem Essay von Rainer Crone. Anish Kapoor produziert außerdem gemeinsam mit Schellmann eine limitierte Edition.

Svayambh
18. Oktober 2007 bis 21. Januar 2008
Eröffnung: Mi 17. Oktober 07, 19 Uhr