Die phantastische Politik

Phantasie hat einen schlechten Namen. Jemand, der als unrealistisch kritisiert wird, heißt Phantast. Innovative Konzepte erscheinen zuerst den meisten als Phantasterei. Nur in wenigen Fällen bedeutet die Wertung „phantastisch“ ein positives Lob.

Phantasie ist gesteigertes Vorstellungsvermögen. Eine Voraussetzung, sich in etwas hineindenken, hineinfühlen zu können, weil man sich vorzustellen vermag, wie es wohl wäre, wie es sein müsse. Oder, weil man ähnliche eigene Erfahrungen überträgt, sich vorstellt, dass woanders es sein könne wie hier, dass der Andere ähnlich wie ich sich das vorstellen könne oder fühle. Ohne Phantasie keine Empathie, keine Menschlichkeit.

Aber Kriege werden nicht aus Gefühlsmangel geführt, und viele foltern nicht aus Mangel an Empathie. Die meisten Folterer, Gewalttäter, Militärs und Politiker haben durchaus Phantasie, ja sogar gesteigerte Empathie, allerdings in negativer Weise: ihnen vermittelt das gerichtete und begrenzte Einfühlen eine Lust, eine besondere Befriedigung. Und der Erfindungsreichtum an Foltermethoden ist nahezu phantastisch.

Phantasie ist also nicht gleich Phantasie. Eigentlich klar, weil es nichts Einseitiges gibt. Alles hat (s)eine Kehrseite. Sogar Gift ist nur eine Frage der Dosierung. Sogar Gott hat seinen Widerpart, das Yin sein Yang. Aber es gibt viele, allzu viele, die leiden an Armut. Besonders an Phantasiearmut, an gemindertem, beschränktem Vorstellungsvermögen. Die Beschränkung versteht man seit Schillers Nennung im 18. Jahrhundert als „Borniertheit“ (aus dem französischen „borne“, Grenzzeichen, und „borner“, beschränken). In diesem Begriff liegt immer noch ein Positives, nämlich das der Intention.

Die meisten Bornierten unsere Tage wollen aber nicht intendiert etwas ab- und eingrenzen, beschränken, sondern sind derart beschränkt, eingegrenzt, dass sie als Beschränkte nicht mehr in der Lage sind zu überschauen: weder wissend und selbsttätig zu beschränken, noch darüber hinaus sich etwas vorzustellen. Sie füttern sich mit Ersatzstoffen, dem allgemein Gültigen, gehen also auf im Normen- und Wertsystem der Mehrheit, fragen und prüfen nicht weiter, weil sie sich ja nichts oder kaum etwas anderes sich vorstellen können. Sie sind im falschen Sinne folgsam. Den Rest an Phantasie, den sie noch haben mögen, halten sie im Rahmen dessen, was ihnen vorgegeben, geboten wird. Sie stellen den Typus des Mitläufers, des Funktionalen dar.

Wir gedenken gegenwärtig nicht nur des Ersten Weltkriegs, der vor 100 Jahren zielgerichtet begonnen wurde, wir feiern auch das Ereignis in vielen peinlichen „Events“. Die Sprache verrät die Beschränkung schon durch Formulierungen wie jenen, dass der Krieg „ausbrach“ oder dass er eine „Tragödie“ gewesen sei. Alles täuschende geistige Kinkerlitzchen, denn er war weder tragisch, noch brach er aus. Er wurde gemacht, er wurde organisiert, er war vorbereitet. Von einer Tragödie zu reden, heißt ihn auf eine falsche Höhe stellen, die Organisatoren und Macher, die Täter und die Mitläufer, entlasten.

In der Erinnerungsarbeit taucht ganz selten das Werk von Karl Kraus auf. Vielleicht weil er so hellsichtig war, sehr sensibel, sehr phantasiereich. Einer mit einem gesteigerten Vorstellungsvermögen, mit hoher Empathie. Einer, der den Mund aufmachte und aussprach, was nicht nur Faktum war, sondern was dahinter- und davor lag.

Ein Ausschnitt aus dem Dialog des Optimisten mit dem Nörgler, aus der 29. Szene des Stücks „Die letzten Tage der Menschheit“:
Der Optimist: Die Entwicklung der Waffe kann doch hinter den technischen Errungenschaften der Neuzeit unmöglich zurückbleiben.
Der Nörgler: Nein, aber die Phantasie der Neuzeit ist hinter den technischen Errungenschaften der Menschheit zurückgeblieben.
Der Optimist: Ja, führt man denn mit Phantasie Kriege?
Der Nörgler: Nein, denn wenn man jene noch hätte, würde man diese nicht mehr führen.
Der Optimist: Warum nicht?
Der Nörgler: Weil dann die Suggestion einer von einem abgelebten Ideal zurückgebliebenen Phraseologie nicht Spielraum hätte, die Gehirne zu benebeln; weil man selbst die unvorstellbarsten Gräuel sich vorstellen könnte und im Voraus wüsste, wie schnell der Weg von der farbigen Redensart und von allen Fahnen der Begeisterung zu dem feldgrauen Elend zurückgelegt ist; ... Hätte man statt der Zeitung Phantasie, so wäre Technik nicht das Mittel zur Erschwerung des Lebens und Wissenschaft ginge nicht auf dessen Vernichtung aus.

Wir haben Workshops für Kreativität, für gelenkte Phantasie. Wir haben Feiern und Gedenkveranstaltungen vom Ersten Großen Krieg. Wir haben Internet und Social Media. Nur wenige lesen Karl Kraus und verstehen ihn.