In einer Sonderausstellung präsentiert das Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek über 90 Exponate, die die verschiedenen Sprachen beleuchten, die von ca. 1500 v. Chr. bis 1000 n. Chr. in Ägypten gesprochen und geschrieben wurden. Die originalen Schriftstücke auf Papyrus, Pergament und Papier beleuchten die verschiedenen Sprachtraditionen im historischen und gesellschaftlichen Wandel. Sie zeigen, wie sich unterschiedliche Sprachen überlagerten und simultan nebeneinander bestanden. Dabei wird das kulturhistorische Phänomen deutlich, dass ein Land über Jahrhunderte hinweg eine Sprache der Herrschaft und eine Volkssprache pflegte.
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Mit diesen Worten charakterisierte Ludwig Wittgenstein in seinem Werk „Tractatus logico-philosophicus” (5.6), wie Sprache unser Denken, unser Handeln und unsere Orientierung in der Welt prägt. Sprache definiert die Grenzen dessen, was wir gedanklich fassen können. Die sprachliche Vielfalt des antiken und mittelalterlichen Ägyptens ist das Thema der neuen Sonderausstellung im Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek.
In der Ausstellung werden auch Bezüge zu unserer Gegenwart hergestellt. Multiethnische und vielsprachige Gesellschaften sind nichts Neues; es gab sie in den verschiedensten Ausprägungen in vielen Epochen und Regionen. Die Begegnung unterschiedlicher sprachlicher und kultureller Traditionen, Diversität und ein toleranter Dialog sind hochaktuelle Themen. Die repräsentative Auswahl an Exponaten veranschaulicht das Aufeinandertreffen verschiedener Sprach- und Kulturkreise im antiken Ägypten anhand der umfangreichen Überlieferungen aus der hellenistischen, römischen, byzantinischen und früharabischen Epoche. Die Schriftstücke dokumentieren sowohl die wechselhafte politische Geschichte dieses Landes als auch dessen sprachliche und kulturelle Pluralität über einen langen Zeitraum hinweg.
Seit der Eroberung Ägyptens durch Alexander den Großen und der ihm nachfolgenden Dynastie der Ptolemäer war Griechisch über tausend Jahre lang die Sprache der Herrschaft und Verwaltung, während die einheimische Bevölkerung weiterhin Ägyptisch sprach. Als Ägypten eine Provinz des Römischen Reiches wurde, brachten die neuen Herrscher Latein mit. Es wurde jedoch lediglich in den Büros des Statthalters und der hohen Finanzprokuratoren sowie als Kommandosprache des Militärs verwendet. Innerhalb der regionalen und lokalen Verwaltung blieb Griechisch die Amtssprache und Rechtsurkunden wurden bis weit in die Kaiserzeit auch in demotischer Sprache von den römischen Gerichten akzeptiert. Erst etwa 700 Jahre später änderten sich die Verhältnisse, als Ägypten unter die Herrschaft des expandierenden Kalifats kam. Es dauerte allerdings Generationen, bis Arabisch, die Sprache der Eroberer, das Griechische zunächst als Verwaltungssprache und schließlich auch als Verkehrssprache ablöste. Daneben blieb das Ägyptische in seiner spätantiken Prägung, dem Koptischen, noch für Jahrhunderte die maßgebliche Sprache jenes Teils der Bevölkerung, der weiterhin dem Christentum anhing. Nachdem Ägypten über tausend Jahre lang ein zweisprachiges Land gewesen war, in dem Ägyptisch und Griechisch gesprochen wurden, blieb es für weitere hunderte Jahre ein bilinguales Land, in dem Koptisch und Arabisch gesprochen wurden, bis sich letzteres schließlich als alleinige Landessprache durchsetzte.
Herrscherbriefe, Petitionen, Rechtsurkunden und Briefe zeigen, wie eine Gesellschaft über Epochen hinweg damit umging, dass die Sprache der Herrschenden nicht dieselbe war wie jene der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Die in der neuen Sonderausstellung gezeigten und erläuterten Urkunden dokumentieren, wie die Kommunikation zwischen Herrschern und Beherrschten im Laufe der Zeit und über die Sprachgrenzen hinweg gestaltet wurde. Dieser vielschichtigen Thematik nähert sich die Ausstellung im Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek einerseits, indem sie die Anwendungsbereiche der unterschiedlichen Sprachen in ihrer chronologischen Abfolge umreißt. Andererseits wird beleuchtet, wie die Sprache der Machthaber in der Interaktion mit der Bevölkerung verwendet wurde – und umgekehrt, mit welcher Sprache sich die Menschen an ihre Herrscher und Behörden wandten. Die Macht der Sprache wird sodann in unterschiedlichen Anwendungsbereichen untersucht, etwa im Wirtschaftsleben, im Rechtsverkehr, im Steuerwesen oder bei unter Eid geleisteten Aussagen.
Die sprachliche Landschaft Ägyptens war zu allen Zeiten vielschichtig. Das Aufeinandertreffen verschiedener Sprach- und Kulturkreise bewirkte, dass Mehrsprachigkeit den Alltag maßgeblich bestimmte. Ein Teil der Bevölkerung bewegte sich gleichzeitig in zwei Sprachtraditionen und kulturellen Identitäten. Zahlreiche bilinguale Texte veranschaulichen, wie das Aufeinandertreffen verschiedener Sprach- und Kulturkreise neue soziale Realitäten schuf und weite Kreise der Bevölkerung mehrsprachig agieren ließen. In den zweisprachigen Schriftstücken manifestieren sich jene kulturellen Assimilationsprozesse, die Ägypten im „papyrologischen Millennium“ (ca. 300 v. Chr. bis 700 n. Chr.) prägten.
Sprachen trugen auch eine symbolische Bedeutung als Prestige- und Identitätsmarker: Die visuelle Präsenz von Schrift – sei es demotisch, griechisch oder arabisch – signalisierte Autorität und Legitimität. Die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben war oft den Eliten vorbehalten und vertiefte die gesellschaftlichen Hierarchien. Bisweilen übernahmen neue Eliten jedoch auch die Sprache der eroberten Bevölkerung, um ihre Herrschaft zu legitimieren und Kontinuität zu demonstrieren.
Dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort kam auch in Religion und Volksfrömmigkeit eine zentrale Bedeutung zu – von den Zauberformeln magischer Praktiken, die über den gesamten Zeitraum hinweg weit verbreitet waren, bis hin zu den maßgeblichen Texten der drei in Ägypten beheimateten Buchreligionen: Judentum, Christentum und Islam. Heilige Schriften transportieren das Wort Gottes, das aus Sicht der jeweiligen Religion unverfälscht überliefert werden musste. Frühe Handschriften zeugen von der peniblen Sorgfalt, die für die präzise Überlieferung des authentischen Wortlautes aufgewendet wurde. Daneben machen magische Texte wie Amulette deutlich, dass Worte auch als Träger wirkmächtiger Kräfte gesehen wurden. Die Kenntnis und sachkundige Anwendung der Zauberformeln konnte Unheil abwenden oder gezielt Schaden zufügen. Die Macht der Worte entfaltete sich in allen Bereichen der antiken Lebenswelt und ist in den als Originale vorhandenen Schriftstücken in eindrucksvoller und umfassender Weise dokumentiert.
Die Macht der Worte. Herrschaft und kulturelle Vielfalt im antiken Ägypten
Bis 3. Mai 2026