Die Komplexlerkultur ist auch eine komplexe.

"Komplex" bedeutet eine Verbindung, Verknüpfung oder Zusammenfügung vieler verschiedener Teile zu einem Ganzen. Der positiv konnotierte Begriff wird aber auch negativ verwendet um eine psychische Erscheinung zu bezeichnen, die nicht mehr in der Lage ist, die vielfältigen verschiedenen Reize "normal" zu verarbeiten, so dass es in drängenden und widerstreitenden inneren Bemühungen zu Fehlleistungen oder Zwangshandlungen kommt. So ein Mensch wird dann im Volksmund als Komplexler bezeichnet, eine Person, die an einem Komplex leidet.

Das Bild des Komplexlers lässt sich in vielem auf die Gesellschaft übertragen, und zwar besonders hinsichtlich ihrer "obersten Organe" und den Werten, nach denen sie handeln sollten und jenen, nach denen sie tatsächlich handeln. Es geht um das alte Problem von Idee und Realität, von Theorie & Praxis, von Grundsätzen und Opportunismus oder Feigheit.

Besonders in Europa grassiert die Komplexlerinfektion. Es scheint eine Pandemie zu herrschen. Verantwortliche können ihre Verantwortung nicht mehr wahrnehmen, weil sei hin- und hergerissen scheinen zwischen Ansprüchen, Prinzipien und realpolitischen Erwägungen oder neuen Vernünftigkeiten und Relativierungen. Eine hoch relativistische Kultur ist nicht nur eine komplexe, sondern auch eine Komplexler-Kultur.

Auch scheint eine Art eingravierter Schuldkomplex hineinzuwirken, der sich mit gewissen Vorstellungsbildern von Reue, Busse, Opferhandlung usw. verbindet, aber auch mit Beweisenmüssen neuer Offenheiten. Das führt zu widersprüchlichen Haltungen und Handlungen. So sind Fremde nicht Fremde, sondern sollen gleiche Rechte wie Einheimische haben, andererseits ahnen auch die stärksten Komplexler, dass ihnen in der Realität da was dazwischen läuft, nicht nur innerlich. Denn für eine Gleichheit (an Rechten und Pflichten) bedarf es mehr als nur Worte.

Jene fröhlichen Einwanderer (ein alter Begriff, der nicht mehr stimmt, weil niemand mehr wandert), die sich par tout nicht integrieren wollen, sind arme Opfer, deren Wertvorstellungen, auch wenn sie unseren widersprechen, beachtet werden müssen. Also führt man wieder Zensur ein, verfolgt unbotmässige, aufmüpfige Journalisten oder deutet das Recht nach moralischen Gesichtspunkten.

Die Stellung der Frau, des Kindes wird unter dem Ansturm gewisser anderer Wertvorstellungen revidiert. Mühsam errungene Fortschritte der Aufklärung werden erst torpediert, dann unterminiert und schlussendlich abgehalftert, ausgehebelt, rückgängig gemacht. Eine feige, anpasslerische Quislinghaltung offeriert sich als offene Zivilisationshaltung, die es allen recht machen will.

Dabei opfert man Errungenschaften und Rechtsbestände, nur um mit vielen verschiedenen Ansprüchen, die man sich nicht getraut zurückzuweisen oder zu korrigieren, zurande zu kommen.

Die Komplexler werden aber immer, im Einzelnen wie im Gemeinsamen, in einem Strudel sich widerstreitender Forderungen, Wünsche, Antriebe usw. gefangen sehen. Niemand hat eine absolute Wahrheit, von der, sozusagen quasiwissenschaftlich, also religiös, und zwar universell verbindlich, DIE richtige Entscheidung für alle getroffen werden könnte. Aus dem Unvermögen Position zu beziehen weichen die Komplexler das System auf, um als "offen", "tolerant" usw. erscheinen zu können.

Ob es um Meinungsfreiheit geht (Karikaturenstreit, politische Kritik) oder Religionen, die durch eigentümliche Paragrafen vor Beleidigungen geschützt werden sollen (welche Filosofie wird derartig geschützt? Welche Wissenschaft und Kritik wäre möglich unter solchem Schutz?) ob es um Wahlrecht oder Integration geht, Kindergärten oder Erziehung, Schulbildung oder Steuern: es entwickelt sich eine widersprüchliche Scheinpolitik, die sich selbst behindert.

Es wird ein Opferkult gepflegt, in dem sich die Komplexler suhlen. Wenn wir das nicht rasch näher beschauen und kurieren, werden unser aufklärerisches Erbe und unsere Gesellschaft angegriffen werden, und wir werden uns verändert, vernarbt, verdrückt, verdrängt, verdorben, verstimmt, verboten wiederfinden. Wie beim Komplexler, sind es nicht primär die äusseren Einwirkungen, sondern die innere Disposition und Organisation, die zu den besagten Einstellungen und Verhaltensweisen führen. Der nötige Blick ist nach innen zu richten, auf die eigenen Ängste und Fürchte, Wünsche und Vorstellungen.

Kein Wertsystem ist absolut und sakrosankt. Weiter- oder Fortentwicklungen sind sinnvoll nur möglich, wenn man nicht komplexbeladen widersprüchlich und disparat agiert, sondern vernünftig Positionen besieht und bedacht Korrekturen vornimmt. Jene Revolutionen als dramatische Änderungen, die nicht diesen "inneren" Aufarbeitungsprozess leisteten (Wertevergewisserung, Selbsterkenntnis), zumindest nicht nach dem eigentlichen "Wechsel", konnten sich nicht festigen und sind nach einiger Zeit gescheitert. Das gilt immer noch.