Mit der Ausstellung "Japan und der Westen: Die erfüllte Leere" realisiert das Kunstmuseum Wolfsburg ein seit langem vorbereitetes Projekt, dessen Konzeption auf Markus Brüderlin zurückgeht, der das Haus seit Januar 2006 leitet. Die Ausstellung steht in enger konzeptioneller Verbindung zu der Ausstellung "Ornament und Abstraktion: Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog", die an der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel, der vorhergehenden Wirkungsstätte von Markus Brüderlin, im Jahr 2001 stattfand. Seine Untersuchungen zum gegensätzlichen Verhältnis von "Ornament und Abstraktion" werden durch Annäherungen an die Konzepte von "Fülle und Leere" weitergeführt.
Das Prinzip der Ausstellung ist dialogisch angelegt: Künstlern der westlichen Moderne werden Kunstwerke und kunsthandwerkliche Objekte des traditionellen Japan gegenübergestellt, wie Zen-Malerei, Keramik, Samuraischwerter, Kalligraphie, Textilien, Lackarbeiten und Instrumente der Teezeremonie.
So begegnet beispielsweise Paul Klees (1879-1940) Gemälde "Schwarze Zeichen" einer zerbrochenen und wieder restaurierten Teeschale aus dem 17. Jahrhundert. Zwischen einer lichthungrigen Skulptur von Cy Twombly (geb. 1928) und der flüchtigen Malerei eines Kiefernwaldes aus dem 16. Jahrhundert, die dem berühmten Künstler Unkei zugeschrieben wird, baut sich eine geheimnisvolle Spannung auf. Die japanisch inspirierten Tuschemalereien eines Julius Bissier (1893-1965) finden in kunstvoll geschmiedeten Schwertverzierungen der Samurai überraschende Verwandte.
Japan und der Westen ist eine thematische Ausstellung, die der Idee der "ästhetischen Leere" nachgeht, und dies anhand eines Konzeptes, das Objekte der traditionellen japanischen Kunst ausgesuchten Kunstwerken der minimalistischen Kunst des Westens gegenüberstellt. Mit diesem "Dialog der Kulturen" liefert das Kunstmuseum Wolfsburg einen Beitrag zur Frage nach einer noch zu definierenden "Weltkunst" in einer globalisierten Welt.
Die Entwicklung der Moderne seit dem Jugendstil verdankt der Öffnung Japans in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl grundlegender Anregungen: Kühne flächige Kompositionen japanischer Farbholzschnitte, der "abstrakte" Expressionismus japanischer Kalligraphie und nicht zuletzt die funktionale Leere traditioneller japanischer Innenräume.
Als der deutsche Architekt Bruno Taut (1884-1967) 1934 in Kyoto in der Katsura Villa aus dem 17. Jahrhundert stand, war er offenbar zutiefst beeindruckt von der "modernen" Schlichtheit ihrer Räume. Das war gewissermaßen der Moment, in dem das westliche Auge, das von dem exotischen Japonismus mit seinen bunten Holzschnitten erotischer Alltagsszenen geblendet war, den wohl nachhaltigsten Beitrag Japans zur Architektur- und Weltkunstgeschichte entdeckte: die Schönheit der Leere.
Bereits mit der Bauhaus-Bewegung hatte auch die westliche Moderne formale Klarheit und den Hang zur Reduktion zum ästhetischen Prinzip gemacht. Doch Modernisten wie der Architekt Walter Gropius (1883-1969) mussten im alten Japan das wiedererkennen, was sie einst als revolutionäre Erfindungen des neuen "Internationalen Stils" gepriesen hatten. "Lieber Corbu", schrieb Gropius 1953 an seinen Kollegen Le Corbusier, "alles, wofür wir gekämpft haben, hat seine Parallelen in der alt-japanischen Kultur. ... Das japanische Haus ist das beste und modernste, das ich kenne ..". Etwas moderater formulierte es der Wiener Architekt Adolf Loos schon 1927: "Moderne Architektur ist: japanische Kultur plus europäische Tradition."
In den Fünfziger Jahren entdeckten amerikanische Künstler wie John Cage, Barnett Newman und Ad Reinhardt den Klang der Stille und die Malerei als Darstellungsform des Nichts. Künstler in Europa verbanden Malen und Meditieren und kamen zu dem Schluss, dass die Zukunft der monochromen, mystischen Abstraktion nicht zuletzt im fruchtbaren Austausch mit der ostasiatischen Malerei und der Zen-Philosophie zu diskutieren sei. In Deutschland hat die Künstlergruppe ZEN 49, zu der u.a. der mittlerweile 99-jährige Maler Rupprecht Geiger zählt, diese Erkenntnis zum Programm gemacht.
Aber auch jenseits der spirituellen Fundierung gewann die Ästhetik der Leere im Westen zunehmend an Bedeutung. Das Terrain bereitete die Minimal Art mit ihren Hauptvertretern Donald Judd (1928-1994) und Carl Andre (geb. 1935) in den Sechziger Jahren, die allen gestalterischen Bereichen vom Design über die Mode bis zum Bühnenbild wesentliche Impulse vermittelte. In den letzten Jahren offenbart sich der Hang zum Minimalen immer mehr als ein verlässlicher Grundstrom, der allen Beliebigkeiten der Postmoderne zum Trotz die Nachhaltigkeit des Projektes der Moderne unterstreicht und die These provoziert, ob die Ästhetik der westlichen Moderne in ihrer Essenz eigentlich nichts anderes ist, als eine stete Annäherung an die traditionelle japanische "Kultur der Leere" - der erfüllten Leere?
Diese Frage liegt der Ausstellung als These zu Grunde, denn gerade angesichts der globalen Definition von Kunst ist die Zeit gekommen, die Moderne anhand der japanischen Ästhetik der Leere neu zu überblicken. "Die erfüllte Leere" möchte mit dem eingangs erwähnten Konzept der direkten Gegenüberstellung und mit einer dafür entwickelten Inszenierungsweise einen ungewöhnlichen Beitrag zu diesem "Dialog der Kulturen" liefern – eine Darstellungsform, deren Radikalität vielleicht gerade an diesem Ort überrascht. Die Aura der Leere steht in klarem Gegensatz zur Opulenz der Pop-Ästhetik früherer Ausstellungen im Kunstmuseum Wolfsburg. Sie soll Raum schaffen für Neues.
Katalog: Die Ausstellung ist umfangreich beschrieben in dem Katalog, der zur Ausstellung erscheint und welcher einen einführenden Aufsatz von Markus Brüderlin beinhaltet sowie Texte von Annelie Lütgens, Stephen Addiss, Adolf Muschg, Ulrich Schneider, Manfred Speidel und Kazuhisa Kawamura.
Japan und der Westen: Die erfüllte Leere
22. September 2007 bis 13. Januar 2008