Lange bevor im 20. Jahrhundert die Abstraktion zur avantgardistischen Kunstform erklärt wird, schaffen Maler und Grafiker Bilder ohne erkennbaren Gegenstand. Die prominentesten Beispiele stammen aus dem Werk des Landschaftsmalers J. M. William Turner (1775–1851), des Dichters und Zeichners Victor Hugo (1802–1885) und des französischen "Symbolisten" Gustave Moreau (1826–1898).
Erstmalig unternimmt eine Ausstellung im Frankfurter Städel den Vergleich dieser drei Autoren abstrakter Bilder des 19. Jahrhunderts anhand von rund 130 teils unveröffentlichten abstrakten Aquarellen, Ölgemälden, Skizzen und Zeichnungen. Gegenläufig zu bisherigen Präsentationen löst sie sich von einer auf die abstrakte Kunst des 20 Jahrhunderts zulaufenden Perspektive und schlägt eine Neubewertung vor: Nicht "Wohin führen diese abstrakten Werke?", sondern "In welcher Tradition stehen sie?" lautet die zentrale Frage.
Um eine Antwort auf diese neue Fragestellung zu finden, lenkt die Ausstellung neben der Werkschau der drei Künstler mit 80 weiteren Bildern, Alben, seltenen Büchern und Kunstgegenständen den Blick auf zwei Traditionen, welche die Grundlagen für abstrakte Bilder seit dem 18. Jahrhunderts bilden: zum einen auf die Faszination für Flecken, für durch Zufall entstandene "Bilder", zum anderen auf die Wirkungsästhetik, die theoretische Reflexion der Wirkung, welche die Mittel des Malers auf den Betrachter ausüben.
Im Kontext einer weit verbreiteten Sehnsucht nach einem neuen und besseren Zeitalter traten um und nach 1911 zahlreiche Künstler mit dem Anspruch auf, die Kunst durch die Abstraktion grundlegend zu erneuern. Abstrakte Bilder kamen aber nicht aus dem "Nichts", sie existierten sowohl in der künstlerischen Praxis als auch als Gegenstand theoretischer Reflexionen lange vor 1900. Die Arbeiten von Turner, Hugo und Moreau machen dies besonders deutlich: In allen drei Nachlässen befinden sich Hunderte von Zeichnungen, Aquarellen, teils auch Ölbilder, die nichts Gegenständliches darstellen und die nun erstmalig in einer Auswahl gemeinsam präsentiert werden.
Joseph Mallord William Turner war ein vielseitiger Landschaftsmaler und der berühmteste britische Künstler seiner Zeit. In London geboren, beschritt er eine erfolgreiche akademische Laufbahn, war Student, später Professor und Vizepräsident der Royal Academy of Art und zeigte in den jährlichen Akademie-Ausstellungen regelmäßig seine Arbeiten. Turner war also kein Außenseiter; sein Werk fällt jedoch aufgrund der ausgeprägten Abstraktion aus dem üblichen Rahmen der Zeit heraus: Im Laufe der Jahre verzichtete er immer mehr auf die Darstellung von Details einzelner Motive und entwickelte eine im zeitgenössischen Kontext ungewöhnliche und für ihn charakteristische Malweise mit großzügig aufgetragenen, übergreifenden Farbmassen und dynamischen Pinselstrichen.
Der französische Dichter Victor Hugo hat als Autodidakt sein Leben lang gezeichnet und rund 3500 Blätter hinterlassen. Sein variationsreiches grafisches Werk reicht von naturnahen Reiseskizzen zu phantastischen, romantisch-dunklen Landschaften. Es schließt einige Hunderte abstrakte Werke ein, in denen er die verschiedensten Möglichkeiten des Farbauftrags erprobte: das Spritzen, Fließen- und Trocknenlassen von Tinte, den Klappdruck und das Abdrucken unterschiedlichster Alltagsgegenstände. Der Surrealist André Breton hat in den 1930er Jahren Hugos Zeichnungen als einer der Ersten entdeckt und deren Modernität bewundert; seitdem waren sie mehrfach Gegenstand großer Ausstellungen. Erstmals sind sie nun auch in Deutschland zu sehen.
Kein anderer Künstler des 19. Jahrhunderts hat so abstrakte Bilder in so unterschiedlichen Medien und mit so verschiedenen Absichten produziert wie Gustave Moreau. Ähnlich wie Turner absolvierte er erfolgreich die Stufen einer akademischen Künstlerlaufbahn, war Student und später Professor an der École des Beaux-Arts in Paris, stellte regelmäßig im Pariser Salon aus, wo er seit 1864 zu den meistdiskutierten und angesehensten Malern zählte. Neben den Historiengemälden, die er ausstellte und verkaufte, bewahrte er im Atelier Hunderte abstrakte Bilder auf, deren Funktion teilweise noch Rätsel aufgibt. Einige Ölskizzen und Zeichnungen sind als Kompositionsstudien entworfen, zufällig entstandene Aquarellflecken konnten neue Bilder anregen.
Neben Turner, Hugo und Moreau zeigt die Ausstellung auch abstrakte Werke anderer Maler und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die in der Mehrzahl bis heute unbekannt sind: farbige "Dendriten" der Dichterin George Sand (1804–1876), die durch das Aufeinanderpressen und Wiederabziehen von bemalten Blättern entstanden, abstrakte Monotypien von Edgar Degas (1834–1917), "Klecksographien" von Justinus Kerner (1786–1862) sowie "Kaffeeklexbilder" von Wilhelm von Kaulbach (1805–1874). Hintergrund für diese ungegenständlichen Arbeiten sind zwei diskursiv-visuelle Traditionen: zum einen die Wirkungsästhetik, das Nachdenken über die Wirkung von Farbe, Komposition und Linie auf den Betrachter, zum anderen die Faszination für Flecken, für durch Zufall entstandene "Bilder".
In Traktaten und Handbüchern setzten sich Künstler und Theoretiker mit dem Ausdruck abstrakter Linien und Farben auseinander. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden ungegenständliche Bilder zur Demonstration dieser Überlegungen vervielfältigt. Die Ausstellung zeigt eine Auswahl dieser teils seltenen und vielfach vergessenen Traktate, die aber in der Ausbildung von Künstlern eine sehr wichtige Rolle spielten. Das Interesse für zufällig entstandene Muster und abstrakte Formationen hingegen fasziniert und beschäftigt die Menschen schon seit vorgeschichtlicher Zeit. Farbige Stein- und Glasgefäße aus dem alten Ägypten (3000 v. Chr.) und aus der römischen Antike sowie buntes Marmorpapier aus dem 18. Jahrhundert verdeutlichen in der Ausstellung, dass das ästhetische Interesse jenseits der Naturnachahmung bis in prähistorische Zeit zurückreicht.
Die Entdeckungen Turners, Hugos und Moreaus sowie anderer Künstler des 19. Jahrhunderts stießen jedoch an die Grenzen des Kunstverständnisses ihrer Zeit. Die Abstraktion Turners wurde von den Zeitgenossen häufig kritisiert. Bereits 1799 warf man ihm vor, skizzenhafte, das heißt unvollendete Bilder mit malerischen Exzessen auszustellen. Victor Hugo hat seine ungegenständlichen Zeichnungen zwar vereinzelt an Freunde verschenkt, aber nie öffentlich ausgestellt. Wie undenkbar abstrakte Gemälde innerhalb der offiziellen Ausstellungspraxis des 19. Jahrhunderts waren, wird daran deutlich, dass sie als Inbegriff des Absurden ein beliebtes Thema von Karikaturen darstellten (u. a. bei Wilhelm Busch).
Katalog: "Turner - Hugo - Moreau. Entdeckung der Abstraktion". Hg. von Raphael Rosenberg und Max Hollein. Mit einem Vorwort von Max Hollein und Texten von Raphael Rosenberg. Deutsche Ausgabe, 360 Seiten, ca. 300 farbige Abbildungen, Hirmer Verlag München, ISBN 978- 3-7774-3755-2, 34,– EUR.
Turner - Hugo - Moreau. Entdeckung der Abstraktion
6. Oktober 2007 bis 6. Januar 2008