Die Disziplin der Leidenschaft

25. Juli 2012 Rosemarie Schmitt
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Ich erinnere mich noch gut daran, als ich - es sind seither einige Jahre vergangen - zum ersten Male die musikalische Bekanntschaft mit Ravi Shankar machte. Erinnerungen an eine bestimmte Musik sind auch immer Erinnerungen an den Charakter einer bestimmten Zeit, an Gerüche, Geschmäcker, an die Sehnsüchte und die Lebensart jenes Lebensabschnittes. Und diese Sonne (die Bedeutung des Names Ravi) schien mir (und besonders meinen Eltern) damals allzu grell.

Entweder in buntem Tuche oder überhaupt nicht verhüllt, stets lächelnd, rauchend, verklären sich zur Musik wiegende Menschen mit ungekämmten langem Haar, die Finger einen Hand stets zum V (Victory) bereit (damals war ich der Überzeugung, Victory bedeute Frieden, doch es bedeutet Sieg). Sie trugen selbstgeklöppelte Strümpfe und aßen nur was freiwillig von Bäumen und Sträuchern fiel, sie diskutierten die Probleme der Welt mit ihren Kindern, noch bevor diese laufen konnten und waren so frei! Von dieser Art Freiheit hielt man bei uns Zuhause nicht viel, und mir damals eine Schallplatte von Ravi Shankar (nur mal angenommen, ich hätte schrecklich gerne eine besessen) heimlich zu kaufen und zu hören, war ganz und gar unmöglich. Zum Einen war das Taschengeld recht knapp, und zum Anderen stand der Schallplattenspieler im Wohnzimmer.

Alles hat seine Zeit, und die meine mit der Musik von Ravi Shankar sollte auch noch kommen! Und zwar im Mai 2012, als EMI-Classics die Ravi Shankar Collection veröffentlichte! 10 (!) CDs die einen Eindruck der enormen musikalisch-formalen Vielfalt des mittlerweile 92jährigen Musikers vermitteln!

Diejenigen die glauben, daß es Ian Anderson war, der als Frontmann der Band Jethro Thull, diese ganz bestimmte Art des Flötenspiels populär machte, haben Recht – leider, denn populär machte er es, doch bereits 1962, 5 Jahre bevor Jethro Thull gegründet wurde, und Anderson noch Gitarre spielte, nahm Ravi Shankar mit einigen Musikern (mit dabei der amerikanische Jazzmusiker Bud Shank an der Flöte!) in Kalifornien "Fire Night" auf. Paul Horn, ein amerikanischen Jazzmusiker, dessen Hauptinstrumente die Querflöte und gelegentlich das Sopransaxophon sind, und der als einer der Begründer der meditativen New-Age-Musik gilt, zeigte gemeinsam mit Shankar schon im Jahre 1964 allen kleinen Andersons wo die Jazz-Flöte hängt!

"The Enchanted Dawn" ist einer der Titel, die mich in besonderer Weise beeindrucken. Im Jahre 1976 wurde der Titel gemeinsam mit dem Flötisten Jean-Pierre Rampal und Martine Géliot in Paris aufgenommen. Martine Géliot war eine französische Harfenistin (wie bereits ihre Mutter und Großmutter) die bei Pierre Jamet studierte und ihren Abschluß mit höchster Auszeichnung machte. Ab 1978 war sie Harfenistin beim Orchestre National de France, außerdem unterrichtete sie am Conservatoire de Paris. Am 7. Februar 1988 starb sie im Alter von nur 39 Jahren.

Ich erwähnte bereits die enorme musikalische Vielfalt des Ravi Shankar, die auf diesen 10 CDs präsentiert wird. Ebenso erwähnenswert ist das überaus informative Beiheft von Emi-Classics. Dort las ich beispielsweise, daß Ravi Shankar sich nicht von Kind an mit dem Sitarspiel beschäftigte. Er war Tänzer! Einer seiner Brüder war ein ausgezeichneter Tänzer und Choreograph, und mit dessen Ensemble tanzte sich der junge Ravi durch die Welt. Er war ein Star, lebte luxuriös in Fünfsterne-Hotels und war mit fünfzehn bereits ein Dandy und Frauenheld. Doch dann begegnete Ravi Shankar diesem einen, ganz besonderen Menschen, der das bisherige wilde Leben des jungen Tänzers auf den Kopf stellen sollte. "Ravi rasierte sich den Schädel, gab seine feine Garderobe weg und begann mit einer rigorosen, siebenjährigen Ausbildung."

Auch zu meinen damaligen Erinnerungen fand ich Passendes: "Ravi Shankar verachtete allmählich den indischen Cocktail, den die kalifornische Haight-Ashbury-Kultur zur Mode erhoben hatte, diese Mischung aus Yoga, Tantra, Mantra, Kundalini, Ganja, Haschisch und Kama Sutra. Die Exzesse der Hippie-Festivals widerten ihn an (...) Er verabscheute Orgien mit Sex und Drogen (...)"

Shankar arbeitete immer häufiger mit klassischen Musikern zusammen. André Previn und Zubin Mehta waren es, die ihn die Konzerte für Sitar und Orchester "schreiben ließen". Der Violinist und Komponist Yehudi Menuhin sagte, nachdem er Ravi Shankar 1952 in Dehli erlebte, daß er von dieser Art des Musizierens nur träumen könnte, denn sie habe nichts mit Noten zu tun! Was zählte, sei lediglich die innere Leidenschaft, der die Spieler nach einer äußerst strengen Disziplin gehorchten.

Doch wie klingt disziplinierte Leidenschaft? Ist dies nicht ein Widerspruch? Nun, ich werde mich noch eine Weile in der Disziplin des Nachdenkens üben, und währenddessen die Musik von Ravi Shankar leidenschaftlich geniessen.

Herzlichst,
Ihre Rosemarie Schmitt