Die Ambivalenz des Menschen: Die filmische Welt des Denis Villeneuve

Seit "Incendies – Die Frau, die singt" (2010) gehört der 1967 geborene Frankokanadier Denis Villeneuve zu den gefragtesten Regisseuren in Hollywood. Entstand der verstörende Thriller "Enemy" (2013) noch als unabhängige Produktion, so legte er mit "Prisoners" (2013) und "Sicario" (2015) seine ersten großen Hollywoodfilme vor. Demnächst feiert beim Filmfestival von Venedig der Science-Fiction-Thriller "Arrival" seine Premiere und in Vorbereitung befindet sich die schon seit langem geplante Fortsetzung von Ridley Scotts Klassiker "Blade Runner". Das Stadtkino Basel zeigt eine Retrospektive des visuell wie inhaltlich gleichermaßen aufregenden Werks Villeneuves.

Nach Musikvideos und Kurzfilmen drehte Denis Villeneuve 1998 mit "Un 32 août sur terre" ("Der 32. August auf Erden") sein Spielfilmdebüt. Wie in späteren Filmen lässt der Frankokanadier schon in dieser Geschichte über eine Frau, die nach einem Autounfall ihrem Leben eine neue Richtung geben will, Realität und Illusion verschwimmen.

Multiperspektivisches Erzählen als weiteres Merkmal von Villeneuves Filmen findet sich dagegen in seinem zweiten Spielfilm "Maelström" (2000), in dem die schweren Themen Schuld, Sühne und Lebenssinn federleicht verhandelt werden. Nur zwei Kurzfilme und einen Dokumentarfilm drehte er in den folgenden neun Jahren, ehe er sich 2009 zurückmeldete.

In "Polytechnique" (2009) zeichnet Villeneuve in brillanten Schwarzweißbildern die Ereignisse nach, die sich am 6. Dezember 1989 im École Polytechnique in Montreal abspielten. Schwer bewaffnet betrat damals ein junger Mann diese Schule und tötete 20 Frauen, während er die Männer ungeschoren davonkommen ließ.

Villeneuve erzählt weder chronologisch noch aus einer Perspektive, sondern folgt wie Gus van Sant im ungleich berühmteren "Elephant" bald dem Täter bei seinen Vorbereitungen und dem Verfassen seines Bekennerschreibens, in dem er die Tat mit seinem Hass auf Feministinnen begründet, bald einer jungen Studentin und dann wieder ihrem Freund.

Erst langsam fügen sich so in dem nüchtern erzählten und brillant montierten Film die fragmentarischen Puzzleteile zu einem Gesamtbild, bei dem freilich Verstörung zurückbleibt, da Villeneuve nicht versucht diesen unerklärlichen Einbruch brutalster Gewalt in einen friedlichen Alltag zu erklären. Gleichwohl schildert er – quasi in einem Epilog –, welche Spuren dieser Tag bei den Überlebenden hinterlassen hat.

Um Frauen als Opfer männlicher Gewalt geht es auch in "Incendies – Die Frau, die singt" (2010), für den zwar Wajdi Mouawads Theaterstück "Verbrennungen" als Vorlage diente, dem man die Herkunft vom Theater aber nie anmerkt. Denn Villeneuve erzählt mehr in Bildern als in Dialogen und pendelt in der für diesen Regisseur typischen verschachtelten Erzählweise souverän zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Kanada und dem Nahen Osten.

Ungemein konzentriert und mit großer emotionaler Wucht ist diese Geschichte über zwei erwachsene Geschwister inszeniert, die im Testament ihrer einst aus dem Nahen Osten nach Quebec emigrierten Mutter beauftragt werden, ihrem Bruder, von dem sie bislang nichts wussten, und ihrem Vater, den sie für tot hielten, einen Brief zu übergeben.

Die Recherche führt Jeanne nicht nur in ein nicht näher bestimmtes Land im Nahen Osten, in dem seit Jahrzehnten ein grausamer Bürgerkrieg zwischen Moslems und Christen tobt, sondern Schritt für Schritt deckt sie dabei auch die erschütternde Lebensgeschichte ihrer Mutter auf.

Auf breite Schilderung der Gräuel verzichtet Villeneuve, doch vermittelt er in seiner elliptischen, sich auf wesentliche Szenen beschränkenden Inszenierung in prägnanten Bildern von zerbombten Städten, einem über ein Haus fliegenden Kampfjet, einem Scharfschützen, der Kinder abknallt oder im Massaker im Bus eindringlich, erschütternd und lange nachwirkend die Gräuel jeder militärischen Auseinandersetzung.

Wie bei einem Puzzle fügen sich bei der Recherche der Tochter, auf deren Wissensstand der Zuschauer immer ist und so mit ihr langsam die Wahrheit entdeckt, sukzessive zunächst lose Einzelteile zu einer aufwühlenden Familiengeschichte, die sich an der "Ödipus"-Tragödie orientiert: Entsetzliches kommt ans Licht, doch gerade die Aufarbeitung ermöglicht auch Versöhnung.

Während "Incendies" sich trotz seiner komplexen dramaturgischen Struktur am Ende zu einer schlüssigen Geschichte fügt, löst Villeneuve bei seiner visuell brillanten Verfilmung von José Saramagos Roman "Der Doppelgänger" nicht nur bei dem von Jake Gyllenhaal gespielten Protagonisten, sondern auch beim Zuschauer eine über das Filmende hinausreichende Verunsicherung und Verstörung aus.

Mit gelb-grünen Farben und einer Smogglocke, die durchgängig über Toronto hängt und keinen Sonnenstrahl durchdringen lässt, wird in "Enemy" (2013) von Anfang an eine bedrückende Stimmung aufgebaut. Dunstig und blass ist diese Welt wie das eintönige Leben des Geschichtsprofessors Adam Bell, dessen neue, stets halb verdunkelte Wohnung noch nicht richtig eingerichtet ist.

Das Unfertige seiner Wohnung korrespondiert mit seiner persönlichen Krise, die sich auch wieder in seinem chaotischen Tafelbild an der Uni spiegelt. Während er über die Kontrolle in Diktaturen doziert, wirkt er zunehmend verwirrter, verschwimmen für ihn Realität und Traum. Und wie er über die Wiederholungen in der Geschichte lehrt, so stellen sich auch in seinem Leben Dopplungen und Wiederholungen ein.

Doch wirklich den Boden unter den Füßen verliert er, als er in einem Spielfilm, den er an seinem Laptop anschaut, in einer Nebenrolle seinen Doppelgänger entdeckt. Er recherchiert über den Schauspieler und kontaktiert ihn. Aber sind dies wirklich zwei Figuren oder existiert der eine nur in der Vorstellung des schizophrenen Anderen? Und wenn letzteres der Fall ist, stellt sich die Frage, welcher von beiden real ist?

Villeneuve liefert keine Antworten, sondern überlässt es bei diesem kafkaesken Alptraum, der nicht zuletzt durch Musik, die an Bernard Herrmanns Soundtracks für die Filme Hitchcocks erinnert, Sogwirkung entwickelt, dem Zuschauer das Gesehene zu interpretieren.

Leichter zugänglich ist zwangsläufig Villeneuves erste Hollywood-Produktion "Prisoners" (2013). Geradlinig und langsam, aber ungemein konzentriert erzählt er in diesem Thrillerdrama vom rechtschaffenen Kleinbürger Keller Dover (Hugh Jackman), dessen Welt durch die Entführung seiner Tochter aus den Fugen gerät. Als ein Verdächtiger von der Polizei aus Mangel an Beweisen bald wieder frei gelassen wird, nimmt Dover die Sache selbst in die Hand.

Gefangen sind in dem von Kameramann Roger Deakins in eine kalte Winterlandschaft eingebetteten Film nicht nur das Mädchen und bald auch der Verdächtige, sondern alle Figuren. Nicht frei agieren können hier die Menschen, sondern werden getrieben von ihrer Verzweiflung und Wut, sind gebunden durch die Regeln des Polizeiapparats, beeinflusst von ihrer Vergangenheit und schweren Schicksalsschlägen. Tiefgläubig mag Dover sein, doch das bewahrt ihn nicht davor, dass die Entführung seiner Tochter den Dämon in ihm entfesselt.

Hier gibt es keine Schwarzweißmalerei, sondern ambivalent bleiben in dem auch in den Nebenrollen hervorragend besetzten Film alle Charaktere und zunehmend verschwimmen die Grenzen zwischen Opfer und Täter. Durchaus auch als Kommentar zum "War on Terror" der USA nach dem 11. September 2001 kann "Prisoners" dabei gelesen werden und fragt bohrend, wie man nach so einer Grenzüberschreitung weiterleben kann, zumal wenn sich die Gefolterten als Unschuldige erweisen.

Ambivalent moralische Fragen diskutiert Villeneuve auch in seinem Drogenthriller "Sicario" (2015), in dem eine junge FBI-Agentin (Emily Blunt) für eine Spezialeinheit rekrutiert wird, um Jagd auf den Boss eines mexikanischen Drogenkartells zu machen.

Brillant vermisst die Kamera von Roger Deakins immer wieder in Luftaufnahmen die Grenzregion zwischen Arizona und Mexiko, die Wüstenlandschaften des Südwestens ebenso wie die mexikanischen Städte und den mächtigen Grenzzaun. Wo freilich geographisch die Grenzen klar gezogen sind, da verschwimmen die moralischen zunehmend. Denn auch die amerikanischen Behörden überschreiten hier ohne mit der Wimper zu zucken die Grenzen der Legalität und agieren nicht weniger brutal als die Kartelle.

Im nüchtern-schonungslosen Blick überlässt es Villeneuve freilich jedem Zuschauer selbst die Frage zu beantworten, welche Mittel in diesem Drogenkrieg, in dem mit Recht und Gerechtigkeit nichts mehr zu erreichen ist, zulässig sind. Es ist auch diese Offenheit, die diesen hochspannenden Thriller über das Ende hinaus nachwirken lässt – und die gespannt auf die kommenden Filme Villeneuves warten lässt.

Trailer zu "Incendies - Die Frau, die singt"