Die 60s in Brasilien

Tropicália entstand aus dem Geist jenes Anthropophagischen Manifestes, das der Modernist Oswald de Andrade in den 20er-Jahren geschrieben hatte: Darin ging es um das Verschlingen fremder Kulturen, um die kritische Appropriation von Kunst-, Musik und Modeströmungen aus der Ersten Welt und um ein Konzept der Hybridität, das aus Partikeln und Fragmenten kultureller Artefakte eine Art ästhetischen Metabrasilianismus konstruierte. "Nur der Kannibalismus verbindet uns. Sozial. Ökonomisch. Philosophisch" schrieb de Andrade.

Tropicália war eine neue kritische (Kunst-)Sprache, die auf der Ebene der alltäglichen Kommunikation intervenierte und sich die Möglichkeiten der modernen Massenkommunikation zunutze machte. Sänger wie Caetano Veloso und Gilberto Gil, die sich als Teil der Bewegung sahen, wurden durch das Fernsehen zu Sprachrohren einer künstlerischen Haltung, die sich gegen den "Import eines abgepackten und gebrauchsfertigen Bewusstseins" (de Andrade) richtete.

"Der Mythos des Tropikalismus ist viel mehr als Papageien und Bananenbäume," heißt es in einem der zahlreichen thesenhaften Texte Hélio Oiticicas, dem führenden brasilianischen Künstler der Epoche. Ohne explizit politisch zu sein, richten sich die vitale Energie, die Lust am schrillen Spektakel und die Öffnung des kulturellen Handlungsfeldes für die Bewohner prekärer Lebenswelten vor allem gegen die bleierne Zeit des brasilianischen Militärregimes, das mit einem Coup im Jahr 1964 den relativ demokratischen Verhältnissen ein Ende gemacht hatte. Die kulturellen Aktivisten stellten der Monotonie und Monochromie der Diktatur die reiche kulturelle Diversität des Landes gegenüber, die auf vielschichtige, oft uneindeutige Weise ästhetisch neu bewertet wurde. Man wollte, so der bedeutende Theaterregisseur José Celso Martinez de Correa, mit Kreativität "den dümmlichen Traum und Mythos einer Technokratie aus zweiter Hand" bekämpfen.

Nicht zur Freude der orthodoxen Linken, die ihr holzgeschnitztes Weltbild bedroht sah und den Tropikalismus häufig als reaktionäre, regressive Kunstform verurteilte: Doch die Künstler, Musiker, Filmer, Theatermacher und Dichter, die sich mit der Idee identifizierten, wollten keine simplen ideologischen Lösungen anbieten, sondern die offizielle Version der brasilianischen Kultur unterminieren, die eine Einheit in der Vielfalt behauptete, die so nie existiert hatte. Es ging um "dialogische und dialektische Verbindung mit dem Universalen", wie es der konkrete Poet Haroldo de Campos formulierte.

Tropicalia arbeitete über Genres und stilistische Grenzen hinweg mit allegorischen Impulsen, Widersprüchen und paradoxen Gegenüberstellungen, die sich einer eindimensionalen Lesart entgegenstemmten. "Zeichnen nach der Natur hat mich nie interessiert", sagte Antonio Dias, auch er ein bedeutender Mitgestalter der Bewegung. "Dagegen hat mich die innere Natur, die Psyche oder die politische Natur immer sehr beschäftigt."

Vor allem Hélio Oiticica erwies sich als bedeutender Konzeptualist und Praktiker einer Ästhetik, die die Trennung von Kunst und Leben aufheben wollte. Nach dem formalen Rigorismus der konkreten und neokonkreten Kunst, die im Brasilien der fünfziger Jahre dominiert hatte, begründeten die Tropicalistas eine "Anti-Kunst", der es nicht um Repräsentation und das Objekthafte ging, sondern um die Herstellung von Situationen und Kontexten für kollektive Verhaltensexperimente. Kunst sollte eine experimentellen Übung hin zur Freiheit sein und die individuelle Wahrnehmung durch sensorische Praktiken transformieren. "Das Avantgarde-Phänomen in Brasilien ist nicht länger eine Sache für eine isolierte Elite, sondern ein breites kulturelles Thema mit sozialen Wirkungen, die auf kollektive Lösungen zielen." (Hélio Oiticica)

Die Ausstellung präsentiert mit Schlüsselwerken wie Tropicália von Oiticia oder dem Film Terra em Transe von Glauber Rocha sowie wichtigen Werkgruppen von Nelson Leirner, Rubens Gerchman, Antonio Dias, Anna Maria Maiolino und Lygia Pape einen historischen Querschnitt durch die künstlerische Vielfalt des kurzen Sommers der künstlerischen Anarchie. Weiters wird gezeigt, wie der kreative Impuls, der von Tropicália ausging, in Arbeiten zeitgenössischer (exil)brasilianischer Künstler wie Ernesto Neto oder Rivane Neuenschwander und Cao Guimarães bis zum heutigen Tag weiterwirkt.

KünstlerInnen der Ausstellung: Artur Barrio, Augusto & Haroldo de Campos, Lygia Clark, Antonio Dias, Rubens Gerchman, Cao Guimarães Nelson Leirner, Anna Maria Maiolino, Cildo Meireles, Ernesto Neto, Rivane Neuenschwander, Hélio Oiticica, Lygia Pape, Décio Pignatari, Glauber Rocha

Tropicália - Die 60s in Brasilien
28. Jänner bis 2. Mai 2010, Halle 2