Der Rote Bulli

"Der Rote Bulli. Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie" - unter diesem Titel widmet sich das NRW Forum für Kultur und Wirtschaft zur Quadriennale 2010 erstmals einem bedeutenden Kapitel der jüngeren Fotogeschichte. Ihr Kern markiert eine Künstlerfreundschaft, die im Jahre 1973 in New York ihren Anfang nimmt. In der US-Metropole lernt der 26jährige Stephen Shore die Düsseldorfer Fotografin Hilla Becher kennen, deren typologische Bilddokumentation von Wassertürmen, die sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Bernd Becher erstellt hat, im Vorjahr in der renommierten Galerie von Illeana Sonnabend gezeigt wurde.

Zwei Jahre danach werden Stephen Shore (als einziger Farbfotograf) und das Ehepaar Becher (als einzige europäische Position) in der legendären Gruppenausstellung "New Topographics" präsentiert. Der New Yorker zeigt hier erstmals sein Farbbild eines roten Volkswagenbusses, das er im Juni 1974 an einer Straßenkreuzung in Easton, Pennsylvania, aufgenommen hat. Für ihn bedeutet das Schlüsselbild nicht nur eine Hommage an den großen US-amerikanischen Fotografen Walker Evans, sondern es handelt sich auch um eine regelrechte Bildinitiation, die ihn dazu bewegt, fortan mit der altermeisterlichen Großformatfotografie zu arbeiten.

Bernd und Hilla Becher wiederum erwerben im Jahre 1980 ausgerechnet einen C-Print dieses Motivs. Über Jahrzehnte ist das Fotografenpaar schließlich in genau diesem Vehikel unterwegs gewesen, um die Industrieanlagen der westlichen Welt zu dokumentieren. Bis zum Tod von Bernd Becher im Jahre 2007 wird ein solches Gefährt weiter seinen Dienst tun. Ein Kleinbus mutiert unweigerlich zu einer Metapher der Fotografie.

Der Rote Bulli ist denn auch der namensgebende Titel der Ausstellung "Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie", der die folgenreiche Verbindung zwischen dem aufstrebenden Protagonisten der New Color Photography und den beiden stilbildenden Düsseldorfer Dokumentarkünstlern über einen Zeitraum von über zwei Jahrzehnten nachzeichnet. Konkret erkundet die Schau die Frage, inwieweit die von Bernd Becher geleitete Fotoklasse an der Düsseldorfer Kunstakademie, deren erste Generation später Weltruhm erlangt, sich von US-amerikanischen Sujets und Bildkonzepten der 1970/80er Jahre inspirieren ließ. Gerade in Konfrontation mit dem fotografischen Werk von Stephen Shore sind die transatlantischen Einflüsse auf die Becherklasse kaleidoskopartig zu studieren.

Mit Stephen Shore steht eine Schlüsselfigur der US-amerikanischen New Color Photography im Zentrum der Ausstellung. Mit 17 Jahren gelangt der gebürtige New Yorker in Andy Warhols Factory und dokumentiert dort das virulente Treiben um den legendären Pop-Art-Künstler. Im Alter von 24 Jahren wird Shore bereits 1971 eine Einzelausstellung im Metropolitan Museum of Art in New York eingerichtet. Ab Mitte der 1970er Jahre begibt er sich auf mehrere Roadtrips durch die Vereinigten Staaten und erstellt eine Dokumentation des "American Life", die in ihrer scheinbaren Banalität die Zeitgenossen zutiefst zu irritieren vermag. Hierbei offenbart sich für Shore das Moment der Farbe als ein künstlerisch auto-nomes Bildelement.

Für die Fotografie allerdings, die damals von einer marktschreierischen Buntheit in den Werbe- und Printmedien beherrscht wird, kommt dieser künstlerische Impuls, den zeitgleich auch sein Landsmann William Eggleston treibt, einer Revolution gleich. Im ersten Teil, der auf der Retrospektive Biographical Landscape der New Yorker Aperture Foundation beruht, gewährt die Schau einen umfassenden Blick auf Shores bahnbrechende Arbeiten der 70er und 80er Jahre. Beginnend von konzeptuell geprägten Schwarzweißarbeiten und betont ironischen Reihen, die mit vernakulärer Fotografie arbeiten, zeigt die Schau Werkkomplexe der epochalen Projekte American Surfaces und Uncommon Places.

Auch dank der Unterstützung von Bernd Becher werden die Farbserien von Stephen Shore seit Mitte der 1970er Jahre verstärkt in Europa und insbesondere in Deutschland wahrgenommen. Im Frühjahr 1977 wird ihm durch die Vermittlung Bechers in der Kunsthalle Düsseldorf eine erste institutionelle Einzelausstellung eingerichtet. Auf der documenta 6 (1977) sind Aufnahmen der Uncommon Places-Serie, die aus dem Besitz von Bernd Becher stammen, ebenso vertreten wie auf der Fotofachmesse photokina (1978, 1980). Früh strahlen die Arbeiten der US-amerikanischen New Color Photography auch auf die von Bernd Becher geleitete Fotoklasse an der Kunstakademie in Düsseldorf aus, die 1976 eingerichtet wurde.

Im zweiten Teil erkundet die Ausstellung "Der Rote Bulli. Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie" die innovativen Bildfindungen, die die Becherklasse im Spannungsfeld mit US-amerikanischen Bildtraditionen der Fotografie entwickelt. Bereits in frühen Arbeiten von Candida Höfer, Thomas Ruff, Volker Döhne, Tata Ronkholz, Thomas Struth und Axel Hütte, die noch in den 1970er Jahren entstehen, artikuliert sich ein Bedürfnis der Studierenden, die präzisen motivischen, bildästhetischen oder konzeptuellen Vorgaben des Becherschen Anspruchs mit Bildparametern des New Color zu erweitern. Neben dem autonomen Einsatz von Farbe (Thomas Ruff, Candida Höfer) und motivischen Adaptionen – etwa im Rückgriff auf Straßenszenerien (Volker Döhne, Thomas Struth) – spiegelt sich dieser Drang in der Präferenz für Themen der Konsum- und Alltagskultur und spezifische atmosphärische Realitäten innerhalb der Fotografie (Tata Ronkholz, Axel Hütte).

In der Folgegeneration der 80er Jahre dienen verstärkt Sally Eauclaires Monografie The New Color Photography (1981) und Stephen Shores Fotobuch "Uncommon Places" (1982) als Inspirationsquelle für bildkünstlerische Strategien. Die Ausstellung untersucht diese beispielhaft in Arbeiten von Wendelin Bottländer, Andreas Gursky, Andi Brenner, Martin Rosswog, Kris Scholz, Simone Nieweg und Boris Becker. Noch in den 90er Jahren lässt sich ein Einfluss von Stephen Shore im Frühwerk von Claus Goedicke, Claudia Fährenkemper, Laurenz Berges, Elger Esser, Stefan Schneider und Bernhard Fuchs nachweisen. Auch ihre Farbaufnahmen verdeutlichen mit Nachdruck, dass die Methodik der Becherklasse zwar einer weitgehend malerisch tradierten Kunstauffassung folgt, die Motivwahl jedoch weiterhin stark von der New Color beeinflusst ist.

Zu Beginn des Jahres 1995 ist Stephen Shore auf Einladung von Bernd Becher erstmals zu Gast an der Kunstakademie Düsseldorf. Er spricht dort zu den Studierenden der Fotoklasse und sichtet Portfoliomappen. Kurz zuvor hat Stephen Shore in Münster eine Retrospektive seiner Werke eröffnet, die zugleich den Beginn seines künstlerischen Comebacks einleiten wird. Im Katalog findet sich ein Interview mit Bernd und Hilla Becher.

Katalog: Format 22,5 x 21,5 ca. 250 S., Hardcover, zweispr. Deutsch / Englisch, 33,- Euro. Titel: "Der Rote Bulli. Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie / Stephen Shore and the new Düsseldorf Photography". Herausgegeben von Werner Lippert und Christoph Schaden. Autoren: Christoph Schaden, Tony Hiss, Christoph Ribbat, Gerald Schröder, Jeffrey Ladd, Maren Polte; sowie ein Überblick über "Die Studienklasse von Bernd Becher an der Kunstakademie Düsseldorf" mit allen Schülern.

Der Rote Bulli

Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie
11. September 2010 bis 16. Januar 2011