Der rekonstruktive Blick

"Ich hasse Natürlichkeit. Ich rekonstruiere alles", sagte einst Pier Paolo Pasolini in einem Interview. Der für seine Auseinandersetzung mit historischen Themen bekannte Filmemacher erntete 1964 für die filmische Rekonstruktion des Matthäus-Evangeliums viel Kritik, aber auch einen Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig. Konstruktion und Rekonstruktion von Geschichte sind auch die zentralen Themen im künstlerischen Werk des in Berlin lebenden Künstlers Simon Wachsmuth. Wie wird Geschichte gemacht, mit welcher Intention werden historische Themen dargestellt und wie leben diese Darstellungen in einem kollektiven und kulturellen Gedächtnis weiter?

Beim Prozess des Erinnerns vergegenwärtigen wir die Vergangenheit, wie der Begriffshistoriker Reinhart Koselleck formuliert. Erinnerungen sind Bilder, die wir stetig von Neuem aus unseren kulturellen Abruf- und Speichersystemen konstruieren. Eine vollständige Repräsentation der Vergangenheit ist jedoch undenkbar, wie beispielsweise die renommierte Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann feststellt. Ebenso wie die Realität lässt sich die Vergangenheit nicht verdoppeln. Nach Assmann ist somit die Kunst eine Bezugnahme auf die Vergangenheit, "denn sie ist einerseits weniger, andererseits aber auch mehr. Sie ist insofern weniger als sie auswählt und immer nur Einzelnes abruft. Sie ist mehr, weil sie dem, was sie abruft, etwas hinzufügt, was es so in der Vergangenheit nicht gibt: eine Geschichte, eine Narration, einen Sinn, einen Zusammenhang, eine Form."

In der Galerie im Taxispalais zeigt Simon Wachsmuth einen Auszug aus der für die 11. Istanbul-Biennale 2009 entwickelten Videoarbeit "Parabase" als auch seinen Werkzyklus "Fehlstellen". Wie bereits in früheren Arbeiten greift der Künstler auf ein Werk der Kunstgeschichte zurück. Der Freskenzyklus "Die Legende vom wahren Kreuz in Arezzo" (1452-1466) ist ein Hauptwerk Piero della Francescas und der italienischen Renaissance. Anhand des Triumphs von Kaiser Konstantin über seinen Rivalen wird die Legende des Heiligen Kreuzes erzählt. Konstantin, der Begründer Konstantinopels, wurde nach seinem Sieg der alleinige Herrscher des Römischen Reiches und trug maßgeblich zum Aufstieg des Christentums bei. Anhand seiner Figur und der Stadt Konstantinopel, die 1453 von den Osmanen erobert wurde, werden die Konflikte zwischen West und Ost und ihre verschiedenen historischen Interpretationen und Lesarten deutlich. Die Geschichte, wie sie die Fresken erzählen, kann aber auch als eine Darstellung internationaler Politik der damaligen Zeit gesehen werden.

In Fehlstellen, einer Serie von Gemälden aus den Jahren 2008-2010, beschäftigt sich Simon Wachsmuth mit den durch Zeit und Umstände zerstörten Stellen in den Fresken Piero della Francescas. Wachsmuth versucht nicht, diese blinden Flecken in einem kunsthistorischen oder archäologischen Sinne zu rekonstruieren, um möglichst das gesamte Bild wieder sichtbar zu machen. Er interessiert sich vielmehr für die Wirkung und Bedeutung der Lücken und den Vorgang ihrer Ergänzung und Rekonstruktion durch die BetrachterInnen.

Die fehlenden Stellen der Fresken überträgt Simon Wachsmuth mit schwarzer Farbe auf Leinwand. So entsteht eine abstrakte malerische Kartografie, die auf Lücken und Interpretationen in der europäischen Geschichtsschreibung verweist. Fotografien und Zeitungsausschnitte, die auf der Leinwand befestigt sind, thematisieren gegenwärtige politische Fragen. Die historischen Ereignisse aus den Fresken Piero della Francescas werden mit der Diskussion um die heutigen EU-Außengrenzen und der sich dort ereignenden Flüchtlingsdramen verknüpft, während der territoriale Diskurs der Renaissance dem geplanten EU-Beitritt der Türkei gegenübersteht. Auf die Widersprüchlichkeiten der europäischen Politik und Geschichtsschreibung deutet auch der Ausstellungstitel "Aporia/Europa" hin. Der aus der antiken Philosophie stammende Begriff "aporia" bezeichnet eine unauflösbare Problemstellung, im übertragenem Sinne eine Konfliktsituation, die aufgrund von zwei einander widersprechenden aber dennoch plausiblen und miteinander verbundenen Positionen entsteht.

Die Bezugnahme auf das künstlerische Vorgehen an sich ist ebenfalls ein wichtiger Teil der Ausstellung. Die Auseinandersetzung mit dem Thema der Abstraktion und die Frage nach den Möglichkeiten der Abstraktion in der zeitgenössischen Kunst ziehen sich wie ein roter Faden durch das Ouevre des Künstlers, jedoch immer vor dem Hintergrund einer Vielfalt der eingesetzten Mittel und Medien.

Simon Wachsmuth - Aporia/Europa
24. Juli bis 12. September 2010