Gerhard Rühm hat am 12. Februar 2025 seinen 95. Geburtstag gefeiert. Der Poet, Dramatiker, Zeichner, Maler, Collagist, Konzeptualist, Performer, Komponist, Musiker und Interpret seiner eigenen Werke ist einer der letzten lebenden Legenden der österreichischen Nachkriegsavantgarde.
1958 hat der Künstler unter dem Titel "wortgestaltung – lautgestaltung" in der Galerie Würthle in Wien seine erste Ausstellung, die zugleich die international erste Schau visueller Poesie ist. Als Einladungskarte wählt Rühm eine Typocollage, auf der zwölfmal das Wort "Jetzt" in unterschiedlichen Schriftgrößen zu lesen ist. Jedes "Jetzt" ist zwar mit dem anderen begrifflich identisch, doch jeder Augenblick ist autonom, einmalig, absolut. Das Gegenwartserlebnis, das "Jetzt" ist einer der zentralen Begriffe in Rühms umfangreichen Œuvre. Es ist immer Gegenwart! Die retrospektive Werkschau in der Neuen Galerie Graz heißt daher auch noch immer "jetzt", da einerseits der Schaffensdrang des Künstlers auch nach 70 Jahren ungebrochen ist und andererseits sowohl Werk als auch Künstler ganz im Hier und Jetzt angesiedelt sind. Jede Begegnung mit einem Bild, jede Auseinandersetzung mit einem Begriff oder Text, jedes Erlebnis von Musik ist eine Augenblickserfahrung. Mit dem "Jetzt" proklamiert Rühm nicht nur ein bewusstes Erleben und Wahrnehmen, ein aufmerksames Sein im jeweiligen Moment, sondern auch eine radikale Zeitgenossenschaft.
Gerhard Rühm wird 1930 als Sohn eines Kontrabassisten der Wiener Philharmoniker in Wien geboren. Er wächst in einem überaus musikalischen Umfeld auf und studiert Klavier und Komposition an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien. Parallel dazu nimmt er Privatunterricht bei dem für seine Zwölftonmusik bekannten Komponisten Josef Matthias Hauer. Nach einem längeren Aufenthalt im Libanon, wo er sich mit orientalischer Musik beschäftigt, wird er Anfang der 1950er-Jahre in der Wiener Kulturszene als "radikaler Komponist" bekannt, der "ein-ton-musik" verfasst. Er freundet sich mit Arnulf Rainer an und 1952 entstehen mit seinen Spiral- und Strahlenzeichnungen erste bildnerische Arbeiten, die in Rainers Oeuvre als "Zentralisationen" bekannt sind. Seine ersten Lautgedichte, die ebenfalls 1952 entstehen, sieht er als "versuche, den eben in der malerei erfundenen tachismus auf die poesie zu übertragen". Die Worte werden de-konstruiert, in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt und als Laut-, Schrift- und Bildmaterial zum Einsatz gebracht. "von begrifllichen bindungen losgelöst, schweben sie frei in einem raum, der keine sprachgrenzen mehr kennt", so die Beschreibung des Künstlers. Nach Konstellationen einzelner Worte und Buchstaben, bei denen er nach und nach auch Bildmaterial miteinbezieht, entstehen ab 1957 reine Fotomontagen, die gänzlich auf Schrift verzichten.
Mit H. C. Artmann, Konrad Bayer, Oswald Wiener und Friedrich Achleitner ist Rühm einer der Mitbegründer der Wiener Gruppe, die ab 1954 sprachliche Versatzstücke und literarische Formhülsen zu Dichtung macht, gefundene Typografien und Zeitungsrisse zu Sprachbildern und Buchstaben und Einzelwörter zu Klangerlebnissen. Entscheidend ist das Verständnis der Sprache nicht nur als Möglichkeit der Mitteilung, sondern als Material, mit dem man arbeiten kann. Alles, was zum Sprachmaterial des Menschen gehört, Laute und Lettern, Ziffern und Zahlen, Wortbildungs- und Satzbaustrategien, Schriftzüge und Schriftbilder, dient Rühm als Werkzeug, um die Bedeutungs- und Ausdrucksqualität der Sprache zu erweitern. Es entsteht ein umfangreicher Werkblock visueller Poesie, der so unterschiedliche Ausdrucksformen wie Schreibmaschinenideogramme, Typocollagen, Fototypocollagen, Zeitungsrisse, Zeitungscollagen, Schriftfrottagen, Schriftzeichnungen, skripturale Meditationen und viele andere mehr beinhaltet. Sein gattungsübergreifender, intermedialer und performativer Ansatz hat dabei eine Reihe von wichtigen künstlerischen Tendenzen des 20. Jahrhunderts wie Happening oder Conceptual Art vorweggenommen.
Bei aller Vielseitigkeit der Medien und künstlerischen Ausdrucksmittel bleibt Rühm stets ein obsessiver Zeichner, der sich dem experimentellen Umgang mit dem Bleistift, dem Papier und den Ausdrucksmöglichkeiten der Linie widmet. Mitte der 1980er-Jahre begründet Rühm in Analogie und als musikalisches Pendant zur visuellen Poesie die visuelle Musik. Sie soll alleine "mit den augen wahrgenommen werden und nur im 'inneren ohr', synoptisch, vage akustische vorstellungen wecken." Ausgehend von der Ordnungsstruktur des Notenpapiers werden Text und Zeichnungen in das geometrische Raster der Notenlinien eingetragen und evozieren so etwas wie Musik im Kopf.
Gerhard Rühm hat sein Leben lang die Grenzen der traditionellen Kunstgattungen beständig erweitert und neue poetische Verfahrensweisen erkundet. Ob er Sprache als Musik komponiert, Worte als Bilder collagiert oder Schrift als Zeichnung auf die Zerreißprobe stellt, nie hat er gängige Erwartungshaltungen erfüllt oder sich mit klassischen Konventionen abgefunden. Er hat die Sprache als Material aus ihren Begriffszusammenhängen gelöst und ihr neue Ausdrucksqualitäten verliehen. Er hat das melodische Potenzial der Zeichnung ausgelotet und mit Bildern Musik komponiert. Er hat Musik, Literatur und bildende Kunst zu einer Synthese verschmolzen, die auf diese Weise in der modernen Kunstgeschichte bislang nicht existierte.
gerhard rühm. noch immer jetzt
bis 5. Oktober 2025