Der erste Zusatz zu den 64 Regeln

9. Mai 2011 Kurt Bracharz
Bildteil

Michael Pollan ist ein US-amerikanischer Journalist, Kolumnist des "New York Times Magazine" und Verfasser von bislang vier Büchern, darunter zwei Bestsellern. Seine 2009 in New York veröffentlichten "Food Rules" liegen nun unter dem Titel "64 Grundregeln ESSEN" auf Deutsch vor (Goldmann Arkana, 160 Seiten, 8,30 Euro).

Pollan hat sich zwar durch das Labyrinth der angeblichen und tatsächlichen Erkenntnisse der modernen Ernährungswissenschaft gekämpft (und kommt im Vorwort zu den 64 Grundregeln zu dem Schluss, es handele sich dabei, "um es einmal freundlich zu sagen, um eine sehr junge Wissenschaft, (...) heute ungefähr so weit wie die Chirurgie im Jahr 1650"), aber er schreibt dieses Mal nicht über Antioxidantien, Polyphenole oder Omega-3-Fettsäuren, denn er hat das Ergebnis seiner Recherchen schon in dem Buch "Lebens-Mittel" veröffentlicht, in dem er "echte Lebens-Mittel" – "jene Pflanzen, Tiere und Pilze, die seit Generationen von Menschen gegessen werden" – von den Produkten der Lebensmittelindustrie unterscheidet, die er "essbare nahrungsähnliche Substanzen" nennt.

Der Witz von "65 Grundregeln ESSEN" besteht in den Formulierungen der Regeln, die von jenen der meisten einschlägigen Bücher erheblich abweichen. Eine dient gleich als Untertitel: "Essen Sie nichts, was Ihre Großmutter nicht als Essen erkannt hätte." Nun hätte zwar meine 1889 geborene böhmische Großmutter eine Pitahaya heute im Supermarkt auch nicht als Essen erkannt, aber gemeint ist natürlich keine exotische Frucht, sondern zum Beispiel ein modernes Tubenjoghurt, also "ein gefärbtes und aromatisiertes Gel im weichen Plastikzylinder", bei dem Großmutter sich fragen würde, ob es etwas zu essen oder eine Zahnpaste sei. Andere Pollansche Regeln lauten: "Meiden Sie Nahrungsprodukte, die Zutaten enthalten, die kein normaler Mensch im Küchenschrank hat" (Beispiele: Xanthan, Ammoniumsulfat), "Meiden Sie Nahrungsprodukte, die fructosereichen Maissirup enthalten" (bei uns Glucose-Fructose-Sirup genannt), oder "Meiden Sie Nahrungsmittel, die vorgeben, etwas zu sein, was sie nicht sind" (Margarine, Analogkäse, Pseudofleisch auf Sojabasis).

Alle Regeln werden in dem Büchlein ausführlich erklärt, soweit das notwendig ist. Warum sagt Pollan zum Beispiel: "Meiden Sie Nahrungsmittel, für die im Fernsehen geworben wird"? Weil sich nur die größten Nahrungsmittelhersteller die teure TV-Werbung leisten können und ihre Produkte die am meisten verarbeiteten und damit am weitesten von natürlichen "Lebens-Mitteln" entfernten sind. In mancher Hinsicht sind die Verhältnisse in den USA, gegen die Pollan anschreibt, schon krasser als bei uns, etwa wenn er erwähnt, dass ein Fünftel der Mahlzeiten von 18 bis 50-jährigen Amerikanern im Auto eingenommen wird, oder wenn er formuliert: "Tankstellen sind zu Ausgabestellen für verarbeiteten Mais geworden: draußen Ethanol für Ihr Auto, drinnen fructosereicher Maissirup für Sie." (Falls Sie glauben, nichts mit fructosereichem Maissirup zu tun zu haben, lesen Sie mal das Kleingedruckte auf Limonaden, Frucht- und Schokoriegeln, aber auch auf anderen Produkten, in denen Sie gar keinen Zucker vermutet hätten.)

Das bringt mich auf ein First Amendment zu Pollans 64 Regeln (von dem mich wundert, dass es bei ihm nicht vorkommt, aber vielleicht hat hier die EU tatsächlich strengere Vorschriften): Lesen Sie immer das Kleingedruckte! Es enthält mehr Überraschungen, als man denkt. Was ist wohl in einem Glas Kren enthalten? Ohne Nachsehen hätte ich gesagt: geriebene Krenwurzel mit einem Konservierungsstoff, der das Weiß erhält. Nachdem ich jetzt das Etikett eines Glases "Gourmet-Kren" aus Kärnten gelesen habe, weiß ich es besser: Krenwurzel, gehärtetes pflanzliches Öl, gehärtetes pflanzliches Fett, Apfel, Wasser, Dextrose, Weingeistessig, Zucker, Hühnervollei, Guarkernmehl, Sorbit, Jodsalz, Zitronensäure, Milchzucker, Natriummetabisulfit. Vier oder fünf von diesen Zutaten hat kein "normaler Mensch" im Küchenschrank.