Der Berliner Skulpturenfund

Im April 2012 kehren fünf verschollen geglaubte expressionistische Werke nach mehr als 70 Jahren an ihren ursprünglichen Ausstellungsort im MKG zurück. Der "Kopf" von Otto Freundlich aus dem Jahre 1925, Richard Haizmanns "Figur" (1929), Naum Slutzkys "Weibliche Büste" (vor 1931) sowie die "Stehende Gewandfigur" (1925) und "Stehender weiblicher Akt" (o.J.) von Gustav Heinrich Wolff wurden im Januar 2010 zusammen mit 11 weiteren Skulpturen bei einem spektakulären Fund in Berlin geborgen.

Die 16 verloren geglaubten Werke, die als der Berliner Skulpturenfund Schlagzeilen machten, sind nun erstmals in Hamburg im MKG zu sehen. Zusammen Exponaten aus der ständigen Sammlung des MKG erzählen sie von der avancierten Sammlungspolitik des MKG in den 1920er Jahren sowie von einem dunklen Kapitel deutscher Kunstgeschichte: der verlorenen Moderne.

Vor zwei Jahren stießen Grabungshelfer vor dem Roten Rathaus in Berlin überraschend auf metallene Gegenstände, die jahrzehntelang unter Bombenschutt begraben lagen. Die Funde stellten sich als Kunstwerke heraus, die in der Ausstellung "Entartete Kunst" ab 1937 unter den Nationalsozialisten in deutschen Museen beschlagnahmt und als "artfremd" diffamiert wurden. Bei den wiedergefundenen Werken handelt es sich um Bronzen von Otto Baum, Karl Ehlers, Richard Haizmann, Karl Knappe, Marg Moll, Karel Niestrath, Edwin Scharff, Naum Slutzky und Gustav Heinrich Wolff sowie Keramikarbeiten von Otto Freundlich und Emy Roeder.

Die Skulpturen von Otto Freundlich, Richard Haizmann, Naum Slutzky und Gustav Heinrich Wolff, alle bedeutende Künstler und Bildhauer der Klassischen Moderne, gelangten durch Max Sauerlandt, dem damaligen Museumsdirektor, in die Sammlung des MKG. Wie sein Vorgänger, Museumsgründer Justus Brinckmann, maß auch Sauerlandt der zeitgenössischen Kunst einen hohen Stellenwert bei. Unter seiner Leitung erwarb das MKG einen großen Bestand an expressionistischen Werken, von denen viele infolge der diffamierenden Ausstellung "Entartete Kunst" verloren gingen. Seit 2010 betreibt das MKG aktiv Provenienzforschung zu ausgewählten Konvoluten seiner Sammlungsbestände und bemühte sich zuletzt mit der Ausstellung über das Leben und Wirken der in Hamburg tätigen jüdischen Kunsthistorikerin Rosa Schapire um eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

Der Berliner Skulpturenfund zählt zu den bedeutendsten Kunstfunden der letzten Jahre. Die Kunstwerke wurden bei Grabungen in der Rathausstraße, der ehemaligen Königstraße 50, gegenüber dem Roten Rathaus gefunden. Im Vorfeld des Weiterbaus der U5 vom Alexanderplatz bis zum Brandenburger Tor finden seit Oktober 2009 archäologische Untersuchungen im Straßenbereich und auf der Grünfläche vor dem Roten Rathaus statt.

Ihr Schwerpunkt liegt auf der Erforschung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Siedlungsgeschichte. In der Regel beginnt die Ausgrabung auf dem Niveau der jüngsten Kellerböden. Um diese zu erreichen, müssen die Grundstücke zunächst "enttrümmert", also von darüber liegendem Material freigeräumt werden. Diese Arbeiten, die aufgrund der Schuttmengen nur mit dem Bagger möglich sind, werden von Archäologen und Mitarbeitern des Landesdenkmalamtes Berlin beobachtet und dokumentiert. Im Januar 2010 wurde ein auffälliger metallener Gegenstand geborgen, der nach einer ersten Reinigung in der Werkstatt des Museums für Vor- und Frühgeschichte wenige Tage darauf als Kunstwerk identifiziert wurde. Einige Wochen später stand fest, dass es sich um ein Bildnis der Schauspielerin Anni Mewes von Edwin Scharff handelte. Die Tragweite des Fundes war jedoch noch nicht erkennbar, da es sich zu diesem Zeitpunkt um einen Einzelfund mit einer Fülle denkbarer Hintergründe handelte.

Im August 2010 wurden in der Nordwestecke des Kellers weitere Bronze- und Terrakottaskulpturen entdeckt und ebenfalls ins Museum für Vor- und Frühgeschichte gebracht. Mit der Identifikation des roten Terrakottakopfes als Teil der Arbeit "Die Schwangere" von Emy Roeder wurde die Verbindung zu der Aktion "Entartete Kunst" deutlich. Aus der Nordwestecke stammen außerdem "Stehendes Mädchen" von Otto Baum, "Tänzerin" von Marg Moll, "Hagar" von Karl Knappe, die Fragmente des "Kopfes" von Otto Freundlich sowie ein großer Torso und ein möglicherweise zugehöriger Kopf einer in Steinguss ausgeführten Skulptur, die noch nicht identifiziert ist.

Im Rahmen einer Nachgrabung Ende Oktober 2010 wurden schließlich noch die weibliche Büste von Naum Slutzky, die stehende Gewandfigur von Gustav Heinrich Wolff, die nicht identifizierte bronzene Gewandfigur einer Frau, die eine Traube hält, sowie Scherben einer ebenfalls noch nicht identifizierten Keramikskulptur gefunden.

Die Skulpturen wurden in einem räumlich eng begrenzten Areal geborgen, das allerdings durch eine Kellerwand geteilt war. In einem Kellerteil konnte nachgewiesen werden, dass die Skulpturen deutlich oberhalb der Einrichtungsgegenstände des Kellers lagen, in dem anderen Raum waren keine Spuren der ursprünglichen Einrichtung nachweisbar. Dies legt nahe, dass die Skulpturen nicht im Keller aufbewahrt wurden, sondern aus einer der darüber liegenden Etagen herabstürzten. Der Brand des Hauses ließ sämtliche Zwischendecken einstürzen. Sollten sich in dem Haus darüber hinaus Gemälde oder andere brennbare Kunstwerke befunden haben, wären diese wohl vollständig verbrannt.

Im Rahmen der diffamierenden Ausstellung "Entartete Kunst" beschlagnahmte und entzog der nationalsozialistische Staat eine große Menge von Kunstwerken überwiegend in öffentlichen Museen und Sammlungen, aber auch bei Privatpersonen. Als propagandistischer Höhepunkt wurde 1937 die Ausstellung "Entartete Kunst" in München eröffnet, die anschließend in Berlin und zahlreichen anderen Städten gezeigt wurde. Die insgesamt weit umfangreicheren Bestände aus den Beschlagnahmungsaktionen sollten möglichst devisenbringend verkauft werden. Dies gelang nur teilweise, ein großer Bestand blieb in Berlin erhalten. Über diesen verfügte eine Abteilung des Reichspropagandaministeriums. Ein Teil dieser Werke gelangte später in den Bestand verschiedener Kunsthändler und wurde so bewahrt. Die staatlichen Maßnahmen wurden nachträglich durch das "Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst"“ vom 31. Mai 1938 legalisiert.

Der Weg der identifizierten Kunstwerke lässt sich bis ins Jahr 1941/42 nachzeichnen. Nach ihrer Beschlagnahme in Museen (Nationalgalerie, Berlin; Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg; Staatsgalerie Stuttgart, Schlesisches Museum der Bildenden Künste, Breslau; Kunsthalle Karlsruhe, Staatsgemäldesammlungen München) wurde ein Teil von ihnen in der Ausstellung "Entartete Kunst" gezeigt. Die übrigen lagerten, gemeinsam mit anderen noch nicht verwerteten Beständen der Beschlagnahmeaktion, in einem Keller des Reichspropagandaministeriums. Wie die Kunstwerke in die Königstraße gelangten, ist noch nicht abschließend geklärt. Unter den ehemaligen Bewohnern des Hauses war allerdings eine Person zu ermitteln, die auf den ersten Blick eine Verbindung zu den Skulpturen gehabt haben könnte: Erhard Oewerdieck (1893-1977), ein Treuhänder und Steuerberater, der 1941 Büroräume im vierten Stock des Hauses Königstraße 50 gemietet hatte. Gemeinsam mit seiner Frau Charlotte (1903-1981) half er während des Krieges jüdischen Mitbürgern, wofür das Ehepaar von der Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" geehrt wurde.

Oewerdiecks Tresor mit Geschäftspapieren, der zusammen mit den Skulpturen geborgen werden konnte, enthielt allerdings keine Hinweise auf Kunst. Im Rahmen der weiteren Forschungen zu dem Fund werden umfassende Recherchen zu allen Spuren, die über dessen Geschichte Aufschluss geben könnten, nötig sein.

Verlorene Moderne
Der Berliner Skulpturenfund
22. April bis 7. Oktober 2012