Der Aufbruch zur Avantgarde

Vom 16. Mai bis 26. August 2007 zeigt das Kunsthaus Zürich die erste grundlegende Phase von Alberto Giacomettis plastischem Schaffen. In der Spannung zwischen der analytischen Vertiefung der figürlichen Tradition Rodins und der Auseinandersetzung mit dem Kubismus und der Kunst Schwarzafrikas, erreicht Giacometti seine ersten, ganz eigenen Stilformen und damit die Schwelle zu seinem bahnbrechenden surrealistischen Werk.

Die Ausstellung entfaltet mit rund 30 Skulpturen, 45 Zeichnungen und 18 Gemälden die weniger bekannte Anfangsphase des Schweizer Bildhauers und Malers Alberto Giacometti (1901-1966), der mit seinen späten Figuren und Gemälden Weltruhm errang. Sie wird inmitten der Sammlung der Alberto Giacometti-Stiftung präsentiert, die einen umfassenden Einblick in sein Lebenswerk bietet.

Giacomettis Anfänge sind vom Leben und Arbeiten in der Familie des bekannten Malers Giovanni Giacometti geprägt. Dem Siebzehnjährigen gelingen bereits erstaunliche Zeichnungen von eigener Stilhaltung, doch diese Vollendung verliert sich im Übergang zum professionellen Künstlertum: was er zuvor intuitiv richtig machte, musste im bewussten Vorgehen neu erarbeitet werden. Vom Sommer 1919 bis Ende 1921 war er auf der Suche. Unbefriedigende Monate an Kunstschulen in Genf, Reisen in Italien und ein längerer Aufenthalt in Rom mit starken Eindrücken und krisenhaftem Versagen wechseln mit der ebenso klugen wie zurückhaltenden Förderung durch seinen Vater beim Malen im heimatlichen Stampa.

Erst mit der Übersiedlung nach Paris und der Aufnahme des Studiums in der Académie de la Grande Chaumière von Antoine Bourdelle ist anfangs 1922 die Entscheidung für die Bildhauerei definitiv. Der Übergang aus dem Familienkreis in das international führende Atelier mit Dutzenden von Studierenden aus aller Herren Länder muss schwer gefallen sein. Viele Monate verbrachte Giacometti noch in Stampa, wo Bildnisköpfe nach seiner Mutter und seinen Geschwistern entstanden: erst 2006 sind diese Werke wieder aus dem Pariser Nachlass aufgetaucht. Es sind die einzigen erhaltenen Skulpturen dieser Zeit, während von allen anderen bis 1925 in Paris produzierten Arbeiten nur die sehr intensiven, kristallinen Aktzeichnungen und ein Selbstbildnis-Kopf überlebt haben.

Da das Erfassen des Lebendigen im Abbilden nicht mehr gelingen wollte, wandte Giacometti sich der abstrakten Kunst zu, in der die Energien der reinen Formen intensiver wirksam werden können. Damit näherte er sich der Avantgarde: Brancusi und Archipenko, dem Kubismus von Lipchitz und Laurens, und zugleich der expressiv stilisierten Kunst der aussereuropäischen Kulturen Schwarzafrikas, Indonesiens, Altamerikas. Dank dem Studium bei Bourdelle verfügte er jetzt über die gestalterische Sicherheit, parallel in diesen drei Formsprachen – der figürlichen, der kubistischen, der »ethnographischen« – zu arbeiten und in ihrer Wechselwirkung zu Neuem vorzustossen. Sein analytisches Vorgehen zeigt sich beispielhaft in der faszinierenden Reihe der Bildnisse des Vaters von 1927.

Klassische Themen der Skulptur liegen aber auch den kubistoiden Figurationen zugrunde. Das Ziel auch der abstrakten Kunst sei es, das Leben darzustellen, notiert Giacometti. Es genüge allerdings nicht, einfach die Einzelformen zu »kubifizieren«, vielmehr müsse das Werk selbst durch seine eigenen Mittel lebendig sein und wirken. Schon hier nähert er sich der zentralen Absicht seines reifen Schaffens: der Evokation der lebendigen Präsenz des Menschen. Jede dieser Skulpturen zeigt die Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Gestaltungsfragen: so entdeckt er an einer afrikanischen Figur die kühne Kontrastierung von Massiv- und Leerformen, die zur »Femme cuillière« führte. Dies ist nicht nur die grösste Plastik der »ethnographischen« Werkreihe, sondern zugleich die erste der grossen hieratischen Frauenfiguren Giacomettis und das Hauptwerk dieser Phase.

Alle diese Bemühungen und Recherchen münden in den »Tête qui regarde« und die gleichartigen scheibenförmigen »Femmes«. Hier werden die Erkenntnisse im Gestalten der Köpfe der Eltern mit der Zeichensprache der »Art premier« und den Stilisierungsmöglichkeiten der Abstraktion zu einem überraschend Neuen kondensiert: eine körperlose Membran, die allein von Licht und Schatten lebt. Auf ein solch tatsächlich »surreales« Objekt scheinen die Surrealisten nur gewartet zu haben; innert Monaten wird der zuvor quasi unbekannte junge Künstler von der Pariser Avantgarde-Szene vereinnahmt. Und von seinen neuen Freunden erfährt er auch, was sie von ihm erwarten: mit der »Boule suspendue« beginnt ein neues Kapitel der abendländischen Skulptur, in dem Alberto Giacometti als wichtigster Plastiker des Surrealismus dem dreidimensionalen Gestalten ganz neue Wege erschliesst.

Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem Giacometti-Forscher Casimiro Di Crescenzo, der sie im »Brolo« in Mogliano Veneto bis zum 6. Mai 2007 zeigt. Wesentlich erweitert kann sie vom 16. Mai bis 26. August im Kunsthaus präsentiert werden, wo sie vom Sammlungskonservator Christian Klemm betreut wird.


Alberto Giacometti. Aufbruch zur Avantgarde
16. Mai bis 26. August 2007