23. Mai 2020 - 8:31 / Ausstellung / Gegenwartskunst 
25. Januar 2020 9. August 2020

Die Einzelaustellung der Trägerin des Manor Kunstpreises Aarau im Aargauer Kunsthaus ist wieder zugänglich und wurde bis 9. August verlängert. Dafür entwickelt Denise Bertschi den Werkkomplex "Helvécia, Brazil" (2017/2018) weiter, in dem sie die Wirtschaftsbeziehungen von Schweizer Handelsleuten nach Brasilien untersucht. Die Verflechtungen führen bis nach Aarau, wo ihre Recherche Überraschendes ausfindig macht.

Die Aargauer Künstlerin Denise Bertschi nimmt in ihrer Arbeit historische Begebenheiten zum Anlass, das Verhältnis der Schweiz zur Welt zu hinterfragen. Sie thematisiert die kolonialen Verstrickungen der Schweiz oder setzt sich mit dem Begriff der Neutralität auseinander, mit dem die schweizerische Eigen- und Fremdwahrnehmung aufs Engste verbunden ist und der zugleich viele Fragen aufwirft. Für ihre Recherchen reist Bertschi häufig in die in ihren Arbeiten beleuchteten Gegenden. So begab sie sich in die entmilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südkorea, wo seit Jahren neutrale Schweizer Militärbeobachter stationiert sind. Sie hielt sich in Brasilien auf, wo im nordöstlichen Staat Bahia eine der grössten Kaffeeplantagen des 19. Jahrhunderts von Schweizern betrieben wurde. Und sie spürte in Südafrika den Beziehungen der Schweiz zum Apartheidstaat nach.

Ebenso hält sich die Künstlerin an unterschiedlichen Orte in der Schweiz auf – in Archiven oder Gebäuden, in denen sich die Geschichte(n) manifestieren, die sie interessieren. Sie spricht mit den Menschen vor Ort, mit Zeitzeugen, EntscheidungsträgerInnen oder ihren Nachfahren, und hält die aufgesuchte Natur und Architektur in Fotografien und Videoaufnahmen fest. Ihr Interesse gilt dabei visuellen Details – Schönem, Auffallendem, Abstrusem – sowie dem Potential von Orten als stille Zeugen der Vergangenheit. Dem gefundenen und anschliessend von Bertschi collagierten Bild kommt in dieser Praxis eine besondere Bedeutung zu: Es begegnet uns in der Form von Projektionen, als wandgrosse Tapete, gedruckt auf Textilien oder in Buchform. Rund um ein Thema schafft Bertschi meist mehrere Arbeiten. Sie entsprechen jener Vielfalt von Perspektiven, die sich die Künstlerin für eine Re-Lektüre der Geschichte nach sozialen oder ethnischen Gesichtspunkten wünscht.

Für ihre Ausstellung im Aargauer Kunsthaus anlässlich des Manor Kunstpreis 2020 führt Denise Bertschi den Werkkomplex "Helvécia, Brazil" (2017/2018) weiter, in dem sie die Wirtschaftsbeziehungen von Schweizer Handelsleuten nach Brasilien untersucht. Der auf ihren Reisen in der Provinz Bahia gesammelten lokalen Perspektive setzt sie ihre jüngsten Recherchen zu den Aargauer Akteure und Akteurinnen gegenüber. Diese führen sie in diverse Depots und zu ausgewählten Gebäuden in der Stadt Aarau, ins Staatsarchiv oder auch ins Naturama Aargau. Hier im Naturama lagern – als Zeugnisse aus der Ferne – die von den Brasilienreisenden gestifteten Sammlungen, vor allem von exotischen Vögeln. Im Staatsarchiv stiess die Künstlerin auf die Fotosammlung eines Kaufmanns, welche die in der Schweizer Bevölkerung vorherrschenden Vorstellungen vom entlegenen Land zementieren.

Die Fotografien erlauben eine weitere Anbindung an den Standort Aarau, befand sich doch in jener Fabrik im Industrieareal Telli, in dem sich später Chocolat Frey niederlassen sollte, zunächst eine Produktionsstätte für fotochemisches und -technisches Material. Es ist anzunehmen, dass die Aargauer Kaufleute mit dem neuesten Stand der Technik vertraut waren. Solche und ähnliche Verflechtungen rückt Bertschi in ihren Fokus. Sie bilden - zusammen mit den während der Recherche gesammelten Eindrücken von Begegnungen, Dokumentationen und Fakten - den Ausgangspunkt ihrer Videoinstallationen, Fotografien und Objekte.

Den Resultaten ihrer jüngsten Recherchen stellt Bertschi die Mehrkanal- Videoarbeit "Helvécia, Brazil" (2017) gegenüber. Darin dokumentiert sie die gegenwärtige Situation im gleichnamigen Ort. Wo sich einst die 1818 von Schweizern und Deutschen gegründete Kolonie "Leopoldina" befand – eine der weltweit grössten Kaffeeplantagen - zeugen heute Eukalyptusplantagen von einer ausbeuterischen Holzwirtschaft. Die Künstlerin spürt dieser "überwucherten" Kolonialgeschichte nach. Einem ähnlichen Ansatz folgend fliesst das Material aus den lokalen Archiven und Aufnahmen von ausgewählten Gebäuden in Aarau in die neuen filmischen und fotografischen Arbeiten ein. Die einzelnen Werke schaffen Einsichten und Zusammenhänge, die weniger der Sorgfalt eines historischen Zugangs verpflichtet sind, als dem Erleben der Akteurinnen und Akteure wie auch dem Hinterfragen des eigenen, westeuropäisch geschulten Denkens und Sehens.

Denise Bertschi.Manor Kunstpreis 2020
25. Jänner bis 9. August 2020 (verlängert)

Aargauer Kunsthaus
Aargauerplatz
CH - 5001 Aarau

W: http://www.aargauerkunsthaus.ch/

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  •  25. Januar 2020 9. August 2020 /
Denise Bertschi, Haunting Home, 2019 Analogfotografie, Naturama, Aarau © Denise Bertschi
Denise Bertschi, Haunting Home, 2019 Analogfotografie, Naturama, Aarau © Denise Bertschi
Denise Bertschi, Helvécia, Brazil, 2017 Videostill, 3-screen Videoinstallation, HD, mit Ton, 20 Min. © Denise Bertschi
Denise Bertschi, Helvécia, Brazil, 2017 Videostill, 3-screen Videoinstallation, HD, mit Ton, 20 Min. © Denise Bertschi
Denise Bertschi, Haunting Home, 2020 Videostill © Denise Bertschi
Denise Bertschi, Haunting Home, 2020 Videostill © Denise Bertschi
Denise Bertschi, Haunting Home, 2019 Analogfotografie, Naturama, Aarau © Denise Bertschi
Denise Bertschi, Haunting Home, 2019 Analogfotografie, Naturama, Aarau © Denise Bertschi
Denise Bertschi, Haunting Home, 2020 Videostill © Denise Bertschi
Denise Bertschi, Haunting Home, 2020 Videostill © Denise Bertschi
© Denise Bertschi
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