Dem Leben zuschauen: Die Berliner Schule

Mitte der 1990er Jahre trat eine Gruppe von jungen deutschen Regisseuren auf, die mit ihren ersten Filmen einen Gegenpol zu den damals gängigen Beziehungskomödien setzen wollten. Den Fokus richteten sie auf den Alltag. Statt zu dramatisieren setzten sie auf geduldige Beobachtung. Da diesen Regisseuren gemeinsam war, dass sie die Deutsche Film- & Fernsehakademie Berlin (DffB) besuchten, fassten Filmjournalisten sie unter dem Begriff "Berliner Schule" zusammen. Das Zürcher Kino Xenix widmet dieser Richtung des deutschen Films im September eine Filmreihe.

Als homogene Gruppe haben sich Christian Petzold, Angela Schanelec und Thomas Arslan nie verstanden. Ihre Ablehnung gegen die deutsche Film- und Fernsehlandschaft der späten 1980er und 1990er Jahre hat sie an der Deutschen Film- & und Fernsehakademie Berlin zusammengeführt. Gemeinsam haben sie Filmvorführungen besucht und Filmreihen organisiert, durch die sie ihren Blick schulten.

Ein Manifest wie die Väter des Jungen Deutschen Films 1962 in Oberhausen oder die dänische "Dogma"-Gruppe 1995 haben sie jedoch nie verfasst. Die Bezeichnung "Berliner Schule" erfanden nicht die Regisseure, sondern wurde ihnen von Außen auferlegt. Der Filmjournalist Rainer Gansera prägte 2001 in einer Rezension von Thomas Arslans "Der schöne Tag" (2001) diesen Terminus und definierte dabei auch die Ästhetik der Filme von Arslan, Schanelec und Petzold: "Alle drei wollen die Wirklichkeit weder decouvrieren noch ironisieren. Sie erzeugen – ästhetisch am Gegenpol des Dogma-Vitalismus – Evidenzen, indem sie ihren Figuren Schönheit und Würde verleihen" (Süddeutsche Zeitung, 3. 11.2001).

Was Mitte der 90er Jahre mit dem um 1960 geborenen Trio Petzold, Schanelec und Arslan begann, hat Kreise gezogen. Neue, rund ein Jahrzehnt jüngere Regisseure, deren Filme eine ähnliche ästhetische und inhaltliche Ausrichtung kennzeichnet, sind nachgerückt, sodass in Frankreich die "Cahiers du Cinema" anlässlich der Uraufführungen von Benjamin Heisenbergs "Schläfer" und Christoph Hochhäuslers "Falscher Bekenner" 2005 in Cannes von einer "Nouvelle Vague Allemande" sprachen.

Was die Filme der "Berliner Schule" zunächst verbindet ist der genaue Blick für den Alltag. Zumindest zunächst wurden keine Genrefilme gedreht, sondern Alltagsgeschichten erzählt. Sie haben nichts mit den Filmen von Tom Tykwer ("Lola rennt"), Wolfgang Becker ("Goodbye Lenin") und Oskar Roehler ("Elementarteilchen", "Agnes und seine Brüder") zu tun und von Bernd Eichingers gesichtslosen Großprojekten ("Der Untergang", "Das Parfüm", "Der Baader-Meinhof-Komplex") trennen sie Welten.

Ruhig und geduldig werden in vielfach statischen Einstellungen die Figuren beobachtet. Kein Versuch wird gemacht den Zuschauer durch schnelle Schnitte und Filmmusik zu manipulieren und ins Geschehen zu involvieren. Die Schilderung eines pubertierenden Mädchens in Valeska Grisebachs "Mein Stern" (2001) oder einer jungen Mutter, die selbst noch ein Kind ist, in Henner Wincklers "Lucy" (2006) benötigt keine Dramatisierung, da die Realität dramatisch genug ist.

Geredet wird nur wenig. Die Figuren wirken oft unbeholfen und sitzen sich wortlos gegenüber. Weil dabei nicht geschnitten wird, sondern auch Platz für Momente der Stille bleibt, wirken die Filme der "Berliner Schule" vielfach spröde. Letztlich gewinnen sie aber gerade durch diese Langsamkeit, die vorsichtige und zögernde, aber mitfühlende Beobachtung ihre Intensität und Kraft.

Aus diesem dokumentarisch beobachtenden Gestus ergibt sich auch, dass die Filme zumeist im Hier und Jetzt spielen. Berlin, manchmal auch märchenhaft verfremdet wie in Petzolds "Gespenster" (2005), die brandenburgische Provinz wie in Grisebachs "Sehnsucht" (2006), ein polnisches Seebad während der Nachsaison in Wincklers "Klassenfahrt" (2002) oder der elterliche Bungalow in Hessen, in den sich ein junger Präsenzdiener zurückzieht, der in Ulrich Köhlers "Bungalow" (2002) ohne Erlaubnis seine Truppe verlässt, sind die Schauplätze.

Gedreht wird nicht im Studio, sondern an den Originalschauplätzen und statt mit Stars wird vielfach mit Laien gearbeitet. 800 Frauen und Männern hat Valeska Grisebach gecastet, um die ideale Besetzung für ihr Liebesdrama "Sehnsucht" zu finden. Authentizität und Natürlichkeit gewinnen diese Filme auch dadurch, dass die Dialoge vielfach erst während der Dreharbeiten entwickelt werden.

Politik ist zumindest vordergründig kein Thema für die "Berliner Schule". Im Mittelpunkt stehen Familiengeschichten. Dem Traum von der Familie in Wincklers "Lucy", von der Liebe und dem glücklichen Familienleben in Grisebachs "Sehnsucht" steht deren Erosion in Petzolds "Die innere Sicherheit" (2000) und "Gespenster" gegenüber. Keine großen gesellschaftlichen und politischen Entwürfe gibt es hier, sondern alltägliche Zustandsbeschreibungen eines Lebens in der Krise, der Beziehung der Generationen und der Einsamkeit. Die Figuren sind oft unzufrieden, da sie ihre Unzufriedenheit aber nicht genau definieren können, lassen sie sich ziellos treiben. Atmosphärisch spiegeln sich dabei in diesen privaten Geschichten immer gesellschaftliche Stimmungen.

Geprägt scheinen die Regisseure der "Berliner Schule" in ihrem Blick auf die Menschen und die Welt von den Franzosen Jean Eustache, Philippe Garrel, Maurice Pialat und Jacques Doillon, in der Spröde und Sperrigkeit andererseits von Robert Bresson und im scheinbar Rohen und Improvisierten vom Amerikaner John Cassavetes. Auch an die belgischen Brüder Dardenne kann man hinsichtlich des Zugriffs auf die Protagonisten in "Sehnsucht" und der inhaltlichen Parallelen von Wincklers "Lucy" und dem belgischen Cannes-Sieger "L´enfant" denken.

Aber auch dem amerikanischen Genrekino verschließen sich diese Regisseure nicht ganz. Immerhin ließ sich Christian Petzold bei seinem Terrorismusdrama "Die innere Sicherheit" (2000) von Kathryn Bigelows Vampirfilm "Near Dark" (1987), bei "Yella" (2007) von Herk Harveys Horrorfilm "Carnival of Souls" (1962) und bei "Barbara" (2012) von Howard Hawks "To Have and Have Not" (1944) inspirieren.

Klassische Genrestoffe mit den Mitteln der Berliner Schule erzählt wiederum Thomas Arslan in seinen jüngsten Filmen. So entwickelt er auf den Spuren der Gangsterfilme von Jean-Pierre Melville in "Im Schatten" (2010) eine meisterhafte Studie eines Profikillers und erzählt in "Gold" (2013) gänzlich undramatisch im Stil der Western eines Budd Boetticher vom Treck einer Gruppe von Migranten durch die nordkanadische Wildnis.

Stark an Michelangelo Antonionis "Blow Up" (1966) und Francis Ford Coppolas "The Conversation" (1974) erinnert dagegen Benjamin Heiserbergs "Schläfer" (2005). Inspiriert von der Terrorangst nach dem Anschlag vom 11. September 2001 erzählt der Enkel des Physik-Nobelpreisträgers Werner Heisenberg in seinem Debüt von einem jungen Wissenschaftler, der vom Verfassungsschutz beauftragt wird einen algerischen Kollegen zu bespitzeln.

Die Story mag zwar ebenso wie bei Heisenbergs folgendem Bankräuber-Film "Der Räuber" (2010) weniger alltäglich sein als bei den meisten Filmen der "Berliner Schule", gemeinsam ist ihnen mit dieser spektakulär unspektakulären filmischen Richtung der Verzicht auf alles Spektakuläre und die Beschränkung auf die genaue Beobachtung. Andererseits sind Heisenbergs, Arslans und Petzolds Abweichungen von und Ausbrüche aus den "typischen Geschichten" der "Berliner Schule" gerade nötig, um Erstarrung, Manierismus und Wiederholungen zu verhindern und Originalität und Vitalität zu bewahren.

Ausschnitt aus "Sehnsucht"