Das Unsichtbare sichtbar machen: AnimaDok

Seit Ari Folman 2008 in "Waltz with Bashir" seine realen Erlebnisse als junger Soldat im Libanonkrieg 1982 großteils in Form eines Animationsfilms aufarbeitete, findet diese Stilform vermehrt Anwendung im Dokumentarfilm. Das St. Galler Kinok bietet derzeit mit einer Filmreihe Einblick in die Möglichkeiten und Spielarten des animierten Dokumentarfilms.

Weil sich Ari Folman an nichts mehr erinnern konnte, was er 1982 im Libanonkrieg erlebt hatte, befragte er damalige Kameraden über die Ereignisse. Bildmaterial gab es allerdings kaum, sodass Folman in "Waltz with Bashir" nicht nur seine Geschichte, sondern auch seine Träume und Gedanken in animierten Szenen nachstellte.

Großes Aufsehen erregte der Israeli damit, denn die Künstlichkeit der Animation und der Realitätsanspruch des Dokumentarfilms galten bislang als unvereinbar. Zwar gab es schon zwischen 1910 und 1930 Dokumentarfilme, in denen Ereignisse wie der Untergang der Lusitania mit Animationsszenen erzählte wurden ("The Sinking of the Lusitania", 1918; Regie: Winsor McCay), da dokumentarisches Bildmaterial für die Katastrophe fehlte. Doch spätestens ab den früheren 1960er Jahren wurden mit dem Aufkommen von Direct Cinema und Cinéma Vérité solche Experimente abgelehnt. Als Ziel des Dokumentarfilms galt es nun möglichst authentisch, unverfälscht und direkt die Wirklichkeit einzufangen.

Zwar entwickelte der Dokumentarfilm in den folgenden Jahrzehnten auch durch die Bedürfnisse der Fernsehsender und das Aufkommen der Computertechnologie neue Formen, doch Animationsszenen fanden sich in diesem Genre bis zu "Waltz with Bashir" kaum. Mit diesem Film wurde quasi ein Damm gebrochen und vor allem in Dokumentarfilmen, die persönliche Geschichten erzählen, für die es keine Bilder gibt, werden vermehrt Animationsszenen eingesetzt.

Neben "Waltz with Bashir", der erst am Ende in reales Archivmaterial vom Massaker von Sabra und Shatila übergeht, ist auch Marc Wieses "Camp 14 – Total Control Zone" (2012) ein Beispiel dafür. Keine Bilder gibt es aus dem nordkoreanischen Gefangenenlager, in dem Shin Dong-Hyuk 1983 geboren wurde. 2005 konnte er dieser Hölle entkommen und erzählte Wiese seine Geschichte, der den erschütternden Bericht durch wenige schwarzweiße Animationsszenen ergänzte, die das Grauen poetisch verdichten.

Gleichzeitig ermöglichen Animationsszenen im Dokumentarfilm auch Gefühle und Gedanken zu vermitteln, für die es keine Realbilder geben kann. So kann Bin Chuen Choi in "Mother´s Day" (2012) in Animationsszenen sein Verhältnis zu und seine Gefühle für seine Mutter, über die er erst im Alter von elf Jahren etwas erfahren hat, vermitteln. Der Cartoonist Jung Henin, der nach dem Koreakrieg in Belgien adoptiert wurde, mischt dagegen in "Couleur de peau: miel" (2012) Szenen aus Familienvideos mit Animationssequenzen, um seine von Zerrissenheit und Identitätssuche bestimmte Lebensgeschichte nachzuzeichnen.

Zur Animation greifen Dokumentarfilmer aber auch bei Ereignissen und Szenen, bei denen es ihnen verwehrt ist zu filmen oder es nötig ist, Personen durch Anonymisierung zu schützen. Weil Katrin Rothe, die in "Betongold – Wie die Finanzkrise in mein Wohnzimmer kam" (2012) am Beispiel ihres eigenen Hauses die Praktiken Berliner Investoren schildert, Wohnungsbesichtigungen durch Kaufinteressierte in Begleitung einer Maklerin nicht real filmen konnte, verwendete sie für solche Szenen Animation.

Ali Samadi Ahadi dagegen griff in "The Green Wave" (2010) zum Mittel der Animation, weil es von der iranischen Protestbewegung des Jahres 2009, der "grünen Revolution", einerseits kaum unabhängiges Bildmaterial gibt, andererseits aber auch um die Identität der Demonstranten zum Schutz vor Repressionen zu verschleiern. – Animation und Dokumentarfilm scheint somit kein Widerspruch zu sein, sondern öffnet neue Möglichkeiten, bietet die Chance durch die künstlerische Überhöhung tiefer in die Wirklichkeit einzudringen und vielfach gerade das sichtbar zu machen, was ein Realfilm nicht zeigen kann.

Literatur: Richter, Annegret, Eine Liaison von Fiktion und Realität. Animation im Dokumentarfilm, Einleitungstext zum Kinok-Programmheft, Januar 2014

"The Sinking of Lusitania" (1918) - 10 min