Das Ungleichgewicht als Wiege des Lebens

Eine kurze Reflektion über Gleichgewicht und Ungleichgewicht, Entwicklung und Stillstand.
In einem Bericht über die 46. Internationalen Universitätswochen für Theoretische Physik in Schladming ist zu lesen, dass das Ungleichgewicht der Materie die Voraussetzung war zur Bildung des Universums und unseres Kosmos. Permanentes Gleichgewicht hätte Fixierung, Stillstand bedeutet.

Die Erkenntnis lässt sich auch auf die Soziologie und Psychologie übertragen bzw. die Kulturwissenschaften. Die Lehre ist nicht neu, wird aber leicht vergessen: Extreme als Dauerzustand sind unhaltbar bzw. löschen sich selbst aus. Immer wieder wird ein Äquilibrium angestrebt, was aber nur möglich ist, weil Kräfte das Gleichgewicht "störten" und als Ungleichgewicht für Veränderung, Entwicklung sorgten.

Der Sprachgebrauch, der im Ungleichgewicht eine "Störung" sieht, ist zu überprüfen. Keine Qualität ist per se oder "an sich" negativ oder positiv. Es kommt immer auf den Kontext und das Verhältnis an. (Gift ist nur eine Frage der Dosierung!)

Innovation, Veränderung, Bildung sind nur möglich, weil der vermeintliche Idealzustand (Gleichgewicht, Harmonie) eben nicht ideal ist, sondern, wie das Leben selbst, sich entwickelt und verändert.

Permanentes Ungleichgewicht ist ebenso unmöglich, wie dauerndes Gleichgewicht. Bei zwei Polen, + & - oder Yin & Yang oder sonst einem Konzept und Symbol, kann es kein ausschliessliches Eines geben, immer bedarf es des Anderen. Die Orientierung auf das alles umfassende Ganze, einem Quasi-Absoluten, ist ein Konstrukt, ein Ideal.

Das Verständnis dieses Zusammenhangs und Verhältnisses könnte fruchtbringend genutzt werden in der Pädagogik, der Bildung, der Wissenschaft, der Politik. Jene Religionen oder Gesellschaftssysteme, die ihr vermeintliches Ideal gefunden meinen und extrem unverändert erhalten wollen, müssen ungeheure Energien aufwenden für diese erzkonservative Haltung. Sie ist, wie die Geschichte lehrt, nicht von Erfolg. Solche Systeme können nicht innovieren: weder wissenschaftlich, noch ökonomisch, noch sozial. Sie erstarren, verkrusten. Sie halten sich, solange sie taugliche Mittel der Unterdrückung, des Terros haben. Doch auch militärische Macht und Gewalt versagt, wenn die "Lebensmittel", die Ressourcen knapp werden oder versiegen. Da solche Systeme ihre Macht auf Exploitation aufbauten, fehlen ihnen dann, beim Tag X, die Ressourcen. Die können dann nicht mehr herbeigebombt werden.

Die jetzigen Kriege um Ressourcen sind der bornierte, kurzsichtige Versuch, sich über Macht und Gewalt "Rohstoffe" zu holen. Wird dieses Konzept nicht geändert, werden jene Gesellschaften, die sich nur auf diese Art Mittel verlassen, schweren Schaden leiden.

Für die Politik wie für die Sozialisation ist klar: engstirniges Ausrichten auf Pseudoabsoluta ist fatal. Einbunkern und Abschliessen führt zum Gefängnis, das sich selbst von der möglichen Veränderung und Entwicklung ausschliesst. Umgekehrt reicht der kriegerische Widerstand nicht aus, wenn das eigene System nicht so erstarkt, dass es sich Veränderungen öffnet. Die Historie der Revolutionen, von 1789 angefangen, über 1848, 1917, 1933 bis in die Gegenwart, zeigt diese Gefahr. Es gibt kein System, keine Gesellschaft, die sich fixiert, abgeschlossen halten konnte, so mächtig sie gewesen sein mochte. Sie war im wesentlichen Aspekt schwach: sie fürchtete sich vor der Zukunft, vor der Veränderung, vor der Entwicklung: sich war paralysiert vor dem Ungleichgewicht. Alle Aggression, Brutalität war nur eine barbarische, primitive Angstäusserung, die schlussendlich nicht half.

Weshalb führt das Wissen nicht zu verändertem Verhalten, zu adäquaten Politiken? Auch Einstein und Freud rätselten. Eine Antwort, die immer wieder vorgebracht wird und die noch nicht abzuweisen ist, wäre: weil der Mensch nicht vernünftig genug ist. Weil die Aufklärung schwach war und weiter geschwächt wird.

Die neue, schlimme Re-Religiosisierung, eine Art Neo-Sakralisierung, wird vor allem durch die Islamisten gefördert. Ihr unheilvoller Einfluss wirkt auch als Stimulans und Erstarkungsmittel für andere Religionsgemeinschaften und Kirchen. Insgesamt arbeitet die Falanx der Religiösen als antiaufklärerische Bewegung an der Niederhaltung der Menschen und versucht dergestalt ein falsches Gleichgewicht, eine falsche Abgeschlossenheit herzurichten. Wie die Reiche der Nazis und Stalinisten, wird es nur eines des Terrors sein, das so lange am Leben bleiben wird, als die Ressourcen unter ihrer Kontrolle sind.

Im Verbund mit dem kruden Utilitarismus der Kapitalprofiteure wahrlich kein hoffnungsvolles Programm! Trotzdem arbeiten und denken wir, scheinbar vergeblich, immer wieder, wie Sisyphos, und sind nicht unglücklich dabei. Denn die Vergeblichkeit, das Absurde, ist nur scheinbar. Immerhin hat sich bis jetzt nicht nur das materielle Universum verändert und entwickelt, sondern auch unser soziales. Auch wenn alles schrecklich langsam verläuft, nichts blieb und bleibt gleich. Hoffen wir, die Entwicklungsrichtung positiv (im aufklärerischen Sinne) bestimmen zu können.