Das Rote Buch

Das Leben und Werk Carl Gustav Jungs (1875–1961), des grossen Schweizer Tiefenpsychologen, war in seiner Lebensmitte von Zweifeln und Sinnessuche geprägt. In dieser schwierigen Zeit begann C.G. Jung im Alter von 38 Jahren mit der Arbeit am "Roten Buch". Diese für ihn prägende Lebensphase führte mit den Aufzeichnungen von Träumen und Visionen letztlich zur Essenz seines Lebenswerks.

Das "Rote Buch" ist eine Ansammlung von Jungs persönlichsten Notizen und Zeichnungen, die seine damalige Unrast und seine Auseinandersetzung mit dem Unbewussten mit teilweise furchterregenden Träumen und quälenden Selbsterfahrungen dokumentiert. Während 16 Jahren fasste er diese Träume und Fantasien in einem Bildband zusammen. Jungs Konfrontation mit dem Unbewussten war aber nicht nur private Sinnessuche, sondern ein absichtlich getätigtes Experiment, um im Kontakt mit dem Unbewussten zu neuen psychologischen Erkenntnissen zu gelangen.

Man kann das zwischen 1914 und 1930 entstandene "Rote Buch" als Gesamtkunstwerk bezeichnen. Das annähernd sieben Kilogramm schwere, in rotes Leder gebundene Werk ist in eigenartig feierlicher, deutscher Sprache verfasst, in kunstvoller Kalligrafie mittelalterlicher Handschriften gehalten und mit farbenprächtigen Illustrationen versehen.

Während der Arbeit am "Roten Buch" unternahm Jung mehrere Reisen, die ihn unter anderem zu den Pueblo-Indianern Neu-Mexikos, in die Oasenstädte Nordafrikas und in die Buschsavanne und Bergwälder Ostafrikas führten. Das gesamte psychologische Werk von C.G. Jung zeugt von seinem immensen Interesse und seiner Neugierde an aussereuropäischen Kulturen. Vor allem asiatische Weltbilder, wie Taoismus, Buddhismus und indische Religionsformen, erscheinen immer wieder in seinen Werken und bilden die Basis seiner Theorien in der Auseinandersetzung mit dem Unbewussten, wie etwa in der "Archetypen-Lehre" und in den "Urbildern".

Häufig finden sich in seinem zeichnerischen Werk kreisrunde Diagramme, ähnlich den Mandalas, die wir aus der tibetischen Kunst kennen. In der Ausstellung finden sich verschiedene Mandala-Skizzen, so auch sein allererstes Werk dieser Art: "Systema mundi totius": eine Darstellung des Mikrokosmos, der seinen eigenen Seelenzustand reflektierte. Jung bezeichnete dieses Werk – zusammen mit einer Reihe von Skizzen, die er während des Militärdienstes als Feldarzt im 1. Weltkrieg zeichnete – als wichtige Zeugnisse seiner psychologischen und geistigen Entwicklung.

Nach Jungs Tod ruhte das "Rote Buch" jahrzehntelang in einem Banktresor. Im vergangenen Jahr ist dieses erstaunliche und rätselhafte Werk der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Die Publikation wurde zu einem Grosserfolg. Das für die Erforschung der Geschichte der Psychologie bedeutsame Werk wird nun erstmals in Europa gezeigt.

Da Jungs Reisen und somit das Buch auch von der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen, Symbolen und Religionen zeugen, war das Museum Rietberg als Ausstellungsort naheliegend. In Zürich werden Tagebücher, Skizzen, Gemälde und Skulpturen C.G. Jungs aus Familien- und Privatbesitz gezeigt, die zeitgleich mit der Arbeit am "Roten Buch" entstanden sind; darunter auch bildhauerische Werke, die noch nie öffentlich zu sehen waren.

"Die Jahre, in denen ich den inneren Bildern nachging, waren die wichtigste Zeit meines Lebens, in der sich alles Wesentliche entschied. Damals begann es, und die späteren Einzelheiten sind nur Ergänzungen und Verdeutlichungen. Meine gesamte spätere Tätigkeit bestand darin, das auszuarbeiten, was in jenen Jahren aus dem Unbewussten aufgebrochen war und mich zunächst überflutete. Es war der Urstoff für ein Lebenswerk." (C.G. Jung, 1957)

C.G. Jung - Das Rote Buch
18. Dezember 2010 bis 20. März 2011