Das getriebene Europa

„Das unbewußte Europa“ von Fedor Vergin erschien 1927 in Wien. Völkerpsychologie war ein populärer Sport, nicht nur für ausgewiesene Fachleute der damals noch jungen Disziplin, sondern für viele Schreibende. Kluge Einsichten waren schwer zu unterscheiden von abstrusen Spekulationen, denn damals schien einerseits alles möglich, nach dem 1. Weltkrieg, dem großen Trauma, andererseits bot die tiefe Verunsicherung und Orientierungslosigkeit den Nährboden für vielerlei Heilssichten (Heil!).

Das Buch wurde, wenig überraschend, sehr geteilt aufgenommen. Während in der Zeitschrift „Psychoanalytische Bewegung“ 1931 eine längere Rezension erschien, die versuchte ernsthaft auf den Text einzugehen, tat der Psychologe Erich Fromm die Schrift als Machwerk ab und bemerkte trocken, „dass es sich also durchaus nicht etwa um eine psychoanalytische Untersuchung handelt“. Der scharfe Kritiker Kurt Tucholsky befand „Das Buch hat Perspektiven, keine großen, viele falsche, aber immerhin.“ Tucholsky ließ sich nicht täuschen. Er erkannte die Schwachstellen, die Klischees und Vorurteile, die falschen Etikettierungen, aber andererseits auch die schlüssigen, plausiblen Überlegungen und Folgerungen, die wichtige Kritik, vor allem am grassierenden Nationalismus und Antisemitismus.

Vergin geht auf die Bürokratie ein, in deren Routine er primitive magische Handlungen sieht. Er spricht von einer europäischen „Amtsmagie“ und geißelt die Pädagogik: „In der Erziehung wird nur Magie betrieben. ... Der Mensch wird nicht erzogen, er wird geschult.“ So ein Befund hat heute ein anderes Gewicht als damals. Er geht auf die Staatsformen ein, die Potentaten, die Militärs usw. Die Kritik von Fromm, dass in übertriebener, karikierter Form „soziales Geschehen ohne Zusammenhang mit seinen wirtschaftlichen Wurzeln als Produkt irgendwelcher an der rechten Stelle auftauchender Triebe“ erklärt werde, trifft zu. Dennoch gelingen Vergin Überlegungen zum Nationalismus und zu Vorurteilshaltungen, die nicht simpel wegerklärt werden.

Er sieht im Nationalismus eine Kulturkrankheit. „Nationalismus ist als Phänomen überhaupt nur möglich, sobald ein soziales Gefühl für ein Gebiet, heutzutage für eins ehr großes Gebiet technisch bedingt durch Verkehr und Verkehrsmittel, sich in der Psyche von der Mutter aus erweitern, übertragen, sublimieren läßt. Er ist an die Vorstellung von Grenzen gebunden.“ Dann folgen Erläuterungen zum Mutterbegriff (Mutter Erde) und zu den fatalen Rettungsphantasien. Die Zuspitzung dieser Art perversen Verhaltens im 2. Weltkrieg, wenige Jahren nach diesen Sätzen, wirkt wie eine offizielle Bestätigung. Für kurze Zeit nach dem zweiten großen Krieg sah es aus, als ob der Nationalismus gemindert, wenn schon nicht überwunden werden würde. Heute grassiert diese Krankheit wieder, trotz oder wegen der Europäischen Union.

Der Freudschen Kulturauffassung folgend hält er fest: „In tausend Varianten sichtbar liegt die Grundtendenz vor: der Kultur zu entfliehen, weil die europäischen Menschen mit ihren eigenen Idealen, meist politischer, sozialer Art nicht zusammenleben wollen, noch können. Das Zwanghafte der Ideale bringt sie um ihr natürliches Lebensglück. Sie hassen unbewußt ihre Ideale, denn diese üben nicht nur auf die Anhänger anderer Ideale, sondern auch auf die Träger selbst einen tyrannischen, unerträglichen Zwang aus. Es entsteht jene politische, also soziale Intoleranz, die einem Haß gegen sein eigenes Über-Ich gleichkommt. Die Menschen hassen sich selbst in ihren politischen Widersachern. Diese Tendenz geht so weit, dass Verfolgung, Mord, Kriegsdrohung an der Tagesordnung sind.“

Hier sind einige durchaus gültige Aspekte berücksichtigt. Heute sehen wir das allerdings nicht nur auf Europa und die Europäer beschränkt, sondern global, in der vater- und mutterlosen, globalisierten Gesellschaft. ‚Wir sehen es in den religiösen Eiferern, in den Chauvinisten und Nationalisten, in den neofaschistischen Gruppierungen oder rechtsextremen Parteien. Wir sehen es in der Wirtschaft, im Finanzterror.

Hatte Fedor Vergin eine Antwort, eine Hilfe, eine Korrektur gesehen? Ja, eine der Aufklärung, also eine schier aussichtslose, schwache: „Die einzige Heilung wäre die freie Kritik. Die kritische Zersetzung der zum Massenmord drängenden Ideale. Kritik schafft Anpassung. Gegen die Zurückführung zur Realität wehrt sich jedoch die am Wahn erkrankte, am Wahngebilde sich pervers erfreuende Bestie im Menschen. Denn es ist leichter, sich und vor allem die anderen mit der Begeisterung für Militärkredite zum Massenmord zu rufen, als den Menschen das angepasste Leben in der Kultur zu ermöglichen.“ Wenn man diesen Befund etwas moderner in heutiger Sprache fasst, staunt man über das Datum bzw. den Zustand, worin wir uns selbst gegenwärtig befinden, wo nicht primär Militärkredite die Gefahr sind, sondern die Finanzwirtschaft selbst, die nicht nur Kriege als Mittel kontrolliert, sondern die gesteuerte Vernichtung insgesamt.

Der Autor schloss seine Überlegungen mit Sätzen, die sich bewahrheiteten und zugleich zu optimistisch waren, wie wir heute, 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs, 75 Jahre nach Beginn des Zweiten, wissen: „Mit einem neuen und vielen unbegreiflichen Freudentaumel wie anno 1914 wird sich demnächst die europäische Menschheit in einen neuen nationalistischen Krieg werfen, weil sie das Leben nicht erträgt. Dann wird sich ergeben, daß Männer der starken und besonders der stärksten hand im Grund von Angst getriebene Schwächlinge sind, daß sie alle die Bestie, die sie riefen und großzogen, nicht meistern können, weil sie sich selbst nie verstehen, nie beherrschen konnten.“