Das Gesicht als Spiegelbild der Seele: Carl Theodor Dreyer

Carl Theodor Dreyer gehört zu den großen Außenseitern der Filmgeschichte. Konnte der 1889 geborene Regisseur zu Beginn seiner Laufbahn noch jährlich einen Film drehen, so entstanden in den 40 Jahren zwischen seinem legendären "La passion de Jeanne d´Arc" (1928) und seinem Tod im Jahre 1968 nur fünf weitere Film. Das Österreichische Filmmuseum zeigt eine Retrospektive des Gesamtwerks des kompromisslosen Dänen.

Aufs Wesentliche reduziert sind die Werke Carl Theodor Dreyers, Musterbeispiele für ein asketisches Kino. Eine Kaskade von Großaufnahmen bestimmt sein Meisterwerk "La passion de Jeanne d´Arc" (1928). Zwar ließ Dreyer vom deutschen Filmarchitekten Hermann Warm (unterstützt von Jean Hugo) die damals teuersten französischen Kulissen bauen, konzentrierte sich dann aber auf das nackte menschliche Gesicht. Die Aussagen weitgehend wörtlich den historischen Prozessakten entnehmend, den Prozess an sich aber von drei Monaten auf einen Tag verdichtend, entwickelte der Däne ein aufgrund seiner Stilisierung zeitloses Glaubensdrama, in dem die auf Typen reduzierten, namenlos bleibenden Ankläger auf das reine, von seiner Mission überzeugte Mädchen treffen.

Die Schnittfrequenz ist dabei mit über 1500 Einstellungen (inkl. Zwischentitel) doppelt so hoch wie bei einem durchschnittlichen Hollywood-Film der 20er Jahre. Thematisch sind Einflüsse von Griffiths "Intolerance" ebenso wenig zu übersehen wie von Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin". Offensichtlich sind auch die Parallelen zur Passionsgeschichte Christi, die zu verfilmen für Dreyer ein unerfüllter Traum blieb.

An Griffith hat sich der dänische Meisterregisseur schon früher orientiert. In "Blade of satans bog – Blätter aus Satans Buch" (1920) verknüpfte er wie der amerikanische Filmpionier in "Intolerance" vier Episoden. Vom Verrat des Judas über die spanische Inquisition und die Französische Revolution bis zur Russischen Oktoberrevolution spannt sich der Bogen der Geschichten, Bindeglied ist Satan, der als das personifizierte Böse Menschen zu allen Zeiten zu verbrecherischen Taten verleitet.

Zur Filmregie kam Dreyer, der, früh verwaist, von Adoptiveltern aufgezogen wurde, über andere Jobs. Zunächst arbeitete er als Journalist, wurde 1912 Redakteur von Zwischentiteln, schrieb bald auch Drehbücher und arbeitete dann bis 1918 als Cutter.

Mit "Preasidenten – Der Präsident" (1920) drehte er seinen ersten eigenen Film, bei dem er bereits mit Laienschauspielern arbeitete und in dem sich auch schon die für ihn charakteristischen Großaufnahmen finden. Auch findet sich schon in seinem Frühwerk das zentrale Thema, das sich durch alle seine Filme zieht: Immer wieder geht es um das Leiden des Menschen, das aber nicht negativ gesehen wird: "Es bedeutet für ihn die Teilnahme des Menschen an den Leiden Christi." (Ulrich Gregor/Enno Patalas, Geschichte des Films 1895 – 1939).

Neben Jeanne d´Arc gehören auch der Arzt, der in Dreyers erstem Tonfilm "Vampyr" (1932) in einer Mühle im Mehl erstickt, Anne, die in "Vredens dag - Dies Irae – Tag des Zorns" (1943) als Hexe verbrannt wird, oder die junge Witwe Inger, die in "Ordet – Das Wort" (1954) nach einer Fehlgeburt stirbt, zu diesen Leidensfiguren.

Wie in "La passion" liegt die Konzentration in allen Filmen Dreyers auf dem menschlichen Gesicht, das zum Spiegel der Seele wird. Kriterium für die Auswahl der Laienschauspieler war, dass sie charakterlich der Rolle entsprechen: ""Schauspieler sollten nach ihrer geistigen Ähnlichkeit mit dem Charakter, den sie spielen sollen, ausgewählt werden, so dass man die Seele eines Menschen durch seinen Gesichtsausdruck erkennen kann", forderte Dreyer wiederholt" (Ulrich Gregor/Enno Patalas, Geschichte des Films 1895 – 1939, S. 45).

Dreyers Rigorosität kam beim Publikum aber nicht gut an und polarisierte auch die Kritik. Nach "La passion…", der auch zum Flop wurde, weil dieser Stummfilm fast gleichzeitig mit den ersten Tonfilmen in die Kinos kam, konnte Dreyer erst fünf Jahre später mit "Vampyr" seinen nächsten Film drehen. Doch auch dieses atmosphärisch starke Meisterwerk des Horrorfilms, das stilistisch an den expressionistischen Film der frühen 20er Jahre anknüpfte, war ein kommerzieller Misserfolg.

Elf Jahre musste Dreyer warten, bis er mit "Dies Irae – Tag der Rache" (1943) ein düsteres Drama aus der Zeit der Hexenverfolgungen im frühen 17. Jahrhundert drehen konnte. Schuld und Erlösung sind wiederum die zentralen Themen, um die diese Liebesgeschichte zwischen der jungen Anne, die mit einem wesentlich älteren Pastor verheiratet ist, und dessen Sohn aus erster Ehe kreist. Die Kargheit der fast statischen Inszenierung wird durch die engen kahlen Räume noch betont. Lange distanzierte Halbtotalen verleihen dem Film ebenso wie die strenge Schwarzweiß-Fotografie einen ruhigen, aber intensiven Rhythmus. Dreyer verzichtet auf jede Dramatisierung, die Musik wird auf ein Minimum reduziert. - Durch Nichts soll hier der Blick vom menschlichen Drama abgelenkt werden.

Auch wenn Dreyer nach diesem weiteren Misserfolg wiederum eine elfjährige Zwangspause einlegen musste, so ging er doch auch bei "Ordet – Das Wort" (1954) keine Kompromisse ein. Schmucklos, aber mit großer innerer Spannung erzählt er von der Erweckung einer Toten. Bei den Filmfestspielen von Venedig wurde "Ordet" zwar ausgezeichnet, begeistert schrieb Francois Truffaut über den Film, insgesamt überwog aber die Ablehnung. Entscheidend hat dieser Film freilich ein halbes Jahrhundert später Carlos Reygadas "Stellet Licht" beeinflusst.

Auch in seinem letzten Film "Gertrud" (1964) wich Dreyer nicht von seinem Stil ab und erzählte mit einem Minimum an äußerer Handlung ähnlich wie Ibsens "Nora" von der Emanzipation einer Frau, "die sich von allen drei Männern, die in ihrem Leben etwas bedeutet haben, trennt, da alle drei nicht der Liebe, sondern der Arbeit den Vorzug geben" (Filmregisseure, Reclam, S. 196).

Mag Dreyer aber auch ein radikaler Einzelgänger geblieben sein, sein Einfluss auf andere Regisseure ist gleichwohl groß. Sein Landsmann Lars von Trier hat ein Drehbuch des Meisterregisseurs zu "Medea" verfilmt, Parallelen zu den Filmen von Andrej Tarkowskij lassen sich feststellen, schon erwähnt wurde der Einfluss auf den Mexikaner Carlos Reygadas und auch die Filme von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet sind unübersehbar vom Minimalismus des Dänen geprägt.

Ausschnitt aus "La passion de Jeanne d´Arc"