...darin er Liebe hatte, Sinn und Not

25. Januar 2012 Rosemarie Schmitt
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Meist sind es die erst gehörten Einspielungen eines Werkes, die uns als die besten, und von dort an so unerhört oft gehört die liebsten werden und bleiben. Alle anderen Aufnahmen der uns doch nun so gut bekannten Komposition vergleichen wir, mit eben dieser, unserer Ersten. Nicht selten verlieben wir uns auf diese Weise gar in Fehler, sei es die Intonation oder die technische Aufnahme betreffend. Es gibt sie eben doch, die Liebe, die ein Leben lang hält.

Nur damit Sie wissen wie tolerant und offen ich bin: die erste Einspielung der Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach die ich hörte, spielte Mischa Maisky, und obwohl ich ihn sehr mag, es gar tagelang vermied mir die Hand zu waschen, die er mir nicht nur reichte, sondern gar schüttelte, da ich selbstverständlich zunächst die Gelegenheit, dann Maiskys Hand schleunigst ergriff! Und trotz dieses Erlebnisses, dem zur Krönung noch ein Wortwechsel folgte (er wechselte die Worte, ich vermutlich die Gesichtsfarbe); ja trotzdem hörte ich mir nach dieser "ergreifenden" Begegnung Bachs Cello-Suiten interpretiert von Pablo Casals an. Es folgten Rostropovich, Yo Yo Ma, Heinrich Schiff, einige andere und Gérard Caussé.

"Ha!", werden nun einige von Ihnen melden, "da haben wir die Frau Schmitt aber ertappt, diese Geschichtenerzählerin, denn bekanntermaßen handelt es sich bei Gérard Caussé um einen Bratschisten!" Und Recht haben Sie, geschätzte Leser! Gérard Caussé präsentiert die 6 Cello-Suiten von J. S. Bach in einer eigenen Bearbeitung für Bratsche.

Und wissen Sie warum? Weil eben diese Suiten, als er sie das erste mal hörte, von seinem Lehrer, Monsieur Meynard, auf der Bratsche gespielt wurden. So öffnete Meynard seinem jungen Schüler an den Sonntagen nicht nur die Tür zum Unterrichtsraum, sondern auch die zu Bach. Natürlich erfuhr Caussé irgendwann, daß diese Suiten für das Cello komponiert wurden, aber da war es schon zu spät. Er liebte diese "Bratschen-Suiten" und stellte sich vor, wie Bach bei der Komposition dieser, mit seiner Bratsche da Stunde um Stunde stünde und sich gar über Transkriptionen getraute nachzudenken.

In dem Beiheft seiner CD "J.S. Bach, 6 Suites de danses" (2CD /EMI / Virgin-Classics) schreibt Gérard Caussé: "Erinnern wir uns kurz daran, daß die Bratsche vier Saiten hat, analog zu denen des Cellos, nur eine Oktave höher. (...) Die musikalische Öffnung, die der Klang eines anderen Instruments mit sich bringt, war ihm (Bach) immer präsent. Ist dies der Versuch, mich für einen Betrug zu rechtfertigen? Ich kann nur für eine zeitlose Leidenschaft eintreten und für den Glauben an mein eigenes Instrument."

Und genau deshalb mag ich diese Einspielung. Weil Caussé nicht betrügt, weil er das nicht nur sagt, sondern weil er diese Suiten, diese Tänze, eben genau mit dieser Leidenschaft und diesem Glauben spielt. Und noch etwas macht diese CD so sehr besonders! Der unvergleichliche Rezitator Laurent Terzieff spricht mit seiner warmen, tiefen und eindrucksvollen Stimme vor den einzelnen Suiten Gedichte von Rainer Maria Rilke. Diese, auf französische gesprochenen Gedichte, sind wie Balsam für die Seele, sind wie die Musik von Bach.

Wer jetzt weint irgendwo in der Welt,
ohne Grund weint in der Welt,
weint über mich.

Wer jetzt lacht irgendwo in der Nacht,
ohne Grund lacht in der Nacht,
lacht mich aus.

Wer jetzt geht irgendwo in der Welt,
ohne Grund geht in der Welt,
geht zu mir.

Wer jetzt stirbt irgendwo in der Welt,
ohne Grund stirbt in der Welt:
sieht mich an.
(Aus: Das Buch der Bilder / Rainer Maria Rilke)

Nach einer Begegnung mit Terzieff hatte Caussé die Idee zu diesem Bach-Rilke-Projekt. Caussé: "Zu meinem glücklichen Erstaunen befürwortete er (Terzieff) mein Projekt auf Anhieb und bat mich, unverzüglich zu kommen. Er war schon da und wartete auf mich, in der Hand seine Texte, mit einer Entschlossenheit, von der ich ahnte, daß es kein Zurück mehr gab. (...)" Und es sollte unglücklicherweise weder ein Zurück geben, noch Aufschub dulden...

Laurent Terzieff starb am 2. Juli 2010 in Paris. Nur wenige Wochen nachdem diese Aufnahme entstand. Es ist wahrscheinlich seine letzte, zur Veröffentlichung bestimmte Lesung.

O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.

(Rainer Maria Rilke, 15.4.1903, Viareggio)