Collection de l'Art Brut - Kunst im Verborgenen

Noch nie fand "Art Brut" international grössere Aufmerksamkeit als zum jetzigen Zeitpunkt. Eine Ausstellung im Aargauer Kunsthaus richtet den Blick nun auf diese vom Maler und Sammler Jean Dubuffet als "ungeschliffenen Diamanten" bezeichnete Kunst und deren engen Beziehung zur Schweiz. Die Ausstellung wird von der Collection de l"Art Brut produziert und in Zusammenarbeit mit dem Aargauer Kunsthaus umgesetzt. Zu sehen sind rund 200 Malereien, Zeichnungen und Assemblagen von 22 Schweizer Positionen aus der Collection de l"Art Brut, ergänzt um Werke aus dem Aargauer Kunsthaus. Mal wild und frei im Gestus, mal präzise und detailliert, erzählen die Werke von Mensch, Natur, Architektur und Sinnbildern.

Längst hat die Art Brut interkontinentale Gefilde erreicht: Weltweit wird nach Neuentdeckungen gesucht, während Form und Begrifflichkeit im Bereich der "Art Brut" immer wieder neu und kontrovers diskutiert werden. Ein Ursprung des Interesses liegt im Europa der Jahrhundertwende: Gesellschaftliche und politische Umbrüche bringen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Künstler/innen (ob Dadaisten, Surrealisten oder Expressionisten) und Intellektuelle dazu, überlieferte akademische Richtlinien zu Gunsten einer antiklassischen Ästhetik zu verwerfen. Der unkonventionelle künstlerische Ausdruck von inneren Bildern, Fantasien und Gefühlen wird zum Katalysator der Moderne. Viele Avantgardisten finden in der Kunst anderer Kulturen aber auch in der "Bildnerei von Geisteskranken" eine Inspirationsquelle.

1945 bereist der französische Maler und Sammler Jean Dubuffet verschiedene Sprachregionen der Schweiz – stets auf der Suche nach künstlerischen Ausdrucksformen, die sich unabhängig vom offiziellen Kunstmarkt und von etablierten Strömungen gebärden. In Museen, vor allem aber im Verborgenen -in Krankenhäusern, Gefängnissen und psychiatrischen Kliniken - begegnet er Menschen, die losgelöst von akademischen Vorbildern und Stereotypen ihre ureigenen Gestaltungen entwickeln. Diese intuitiv und autodidaktisch gewachsenen Kunstformen umreisst er mit dem Begriff "Art Brut" (franz. rohe, ungeschliffene Kunst). 1971 schenkt er einen Grossteil seiner Sammlung an die Stadt Lausanne. Darauf basierend entsteht 1976 die heute international bekannte Collection de l"Art Brut.

Nach ihrer Erstpräsentation im Museo di Ascona (gezeigt unter dem Titel "Art Brut - Swiss Made", 4.7.-21.10.2018) präsentiert das Aargauer Kunsthaus die Ausstellung unter dem Titel "Collection de l"Art Brut. Kunst im Verborgenen". Es ist eine angepasste und um eigene Werke (u. a. Walter Arnold Steffen, Aloïs Wey und Adolf Wölfli) ergänzte Ausgabe. Die Kooperation mit der Collection de l"Art Brut entspricht dem langwährenden Anliegen des Aargauer Kunsthauses, neben der etablierten Schweizer Kunst auch das Kunstschaffen an den Rändern zu beleuchten (man denke z.B. an die beiden Outside-Ausstellungen in den 1980er-Jahren unter Direktor Heiny Widmer, oder "Auf der Grenze" von 2015, kuratiert von Thomas Schmutz).

Präsentiert werden Arbeiten aus Dubuffets Sammlungskanon, so z.B. von Julie Bar und Berthe Urasco, Kunst von Patienten, die Dubuffet aus der Sammlung des ehemaligen Leiters der psychischen Klinik Cery Bel-Air, dem Arzt Charles Ladame, geschenkt bekommen hatte; oder von Adolf Wölfli und Heinrich Anton Müller, die ihm in der Berner Waldau Klinik durch den dortigen Arzt Walter Morgenthaler vorgestellt wurden. Weitere Ausstellungspositionen wie Benjamin Bonjour, Hans Krüsi, Martial Richoz, Armand Schulthess, Gaston Teuscher, Gaspard Corpataux, Justine Python und Anne-Lise Jeanneret kamen ab 1976 über die Konservatoren Michel Thévoz und Lucienne Peiry in die Lausanner Sammlung. Sarah Lombardi, die seit 2012 die Collection de l"Art Brut leitet, führt die Sammlungstätigkeit bis ins Heute fort und fügt der Collection wie auch der Ausstellung u. a. zeitgenössische Positionen wie den Lausanner Diego zu.

Nebst der Intention, die vielfältigen Handschriften der Art Brut-Künstler/innen sichtbar zu machen, macht die Ausstellung auf wiederkehrende Themenkomplexe aufmerksam. Thematisch geordnet erfolgt denn auch der Rundgang: Den Auftakt bilden die emblematischen Figuren von Aloïse Corbaz: angeregt von Märchen und Opern sowie ihrer Arbeit als Kindermädchen und Schneiderin am kaiserlichen Hof Wilhelm des II., lässt Corbaz Prinzen, Helden und Märchenfiguren über dünne Packpapierbogen tanzen. Eine dichte Ornamentik, die an heraldische Darstellungen und die Berner Volkskunst erinnert, zeichnet das Schaffen von Adolf Wölfli aus. Auf Heftpapier und kleinformatigen Zetteln zeichnen Julie Bar und Jules Doudin humorvolle Bildgeschichten von Tieren, Menschen und Fabelwesen. Ein enzyklopädischer oder konzeptueller Hang zum akkuraten oder grafischen Umgang mit Linie und Fläche zeigt sich bei Martial Richoz und Diego.

Collagierte und gemalte, imaginierte Palastarchitekturen finden sich bei Aloïs Wey und Benjamin Bonjour. Diese bunte Welt setzt sich in den Pflanzen- und Tierlandschaften von Samuel Failloubaz fort und mündet schliesslich in den Heimatbildern von Hans Krüsi, der als Bildgrund zuweilen ungewohnte Materialien wie Milchkartons benutzte. Den Abschluss machen rohe Gesten sowie Schriften die sich auf das eigene Selbst der Kunstschaffenden beziehen - gespiegelt in den handschriftlichen Protesten Justine Pythons, den verschlungenen Gestalten bei Gaston Teuscher oder den maskengleichen Assemblagen von Angelo Meani.

Die Begegnung zwischen dem Aargauer Kunsthaus und der Collection de l"Art Brut birgt somit grosses Potential: Zwei historisch gewachsene Sammlungen treten in einen Dialog und machen es möglich, in institutionellem Rahmen rück- und vorausblickend, unvoreingenommen aber auch kritisch, über das Schweizer Kunstschaffen und ihre vermeintlich linearen und klaren Kategorisierungen nachzudenken.


Publikation: Anlässlich der Ausstellung "L"Art Brut – Swiss Made" erschien eine von der Collection de l"Art Brut, Lausanne in Zusammenarbeit mit dem Aargauer Kunsthaus, Aarau und dem Museo Comunale d’Arte Moderna di Ascona herausgegebene Publikation in D ,I oder F; mit ausgewählten Bildern, einem Vorwort der Direktorinnen Sarah Lombardi, Mara Folini und Madeleine Schuppli, einem Einführungstext von Sarah Lombardi und Kurzbiografien zu allen in der Ausstellung versammelten KünstlerInnen aus der Sammlung der Collection de l"Art Brut, Lausanne. Erschienen: Juni 2018. Preis: CHF 25.-

>**Collection de l"Art Brut - Kunst im Verborgenen**
26. Januar bis 19. Mai 2019
Vernissage: Fr 25. Januar 2019, 18 Uhr