Cinephil und gesellschaftlich engagiert - Bertrand Tavernier wird 70

25. April 2011 Walter Gasperi
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Ungemein vielfältig ist das Werk des am 25. April 1941 in Lyon geborenen Bertrand Tavernier. Eine bitterböse Satire wie "Coup de torchon - Der Saustall" steht hier neben einem lyrischen Film wie "Un dimanche à la campaggne", scharfe Abrechnungen mit dem Krieg neben dem Jazzfilm "Round Midnight" und Dokumentarfilme neben Spielfilmen. Als Bindeglied kann man aber das Engagement für das Individuum und Kritik an Institutionen ausmachen.

In "In the Electric Mist" (2008) schickt Bertrand Tavernier Tommy Lee Jones als Detective Dave Robicheaux auf Mörderjagd in den schwülen Süden von Louisiana. Atmosphärisch dicht fängt der Franzose die Stimmung in der vom Hurricane Katrina gezeichneten Region ein, steigert die Melancholie noch durch Bluesmusik und das schleppend-schwermütige Erzähltempo. Angesichts der scheinbaren Übermacht der Verbrecher kommen beim Sheriff Selbstzweifel auf, doch in Visionen ermahnt ihn ein längst verstorbener Bürgerkriegsgeneral weiterhin der Gerechtigkeit zu dienen und seine Prinzipien nicht über Bord zu werfen.

Mit diesem Neo-Noir drehte Tavernier 2008 seinen ersten Film in den USA, deren Kino ihn seit seiner Kindheit faszinierte. Schon während seiner Schulzeit begann er Filmkritiken zu schreiben, war nach einem abgebrochenen Jura-Studium Regieassistent bei Jean-Pierre Melville, Jean-Luc Godard und Claude Chabrol. 1963 und 1964 war er als Regisseur an den Episodenfilmen "Les Baisers" und "La chance et l´amour" beteiligt, zog sich dann aber für zehn Jahre auf Tätigkeiten als Filmjournalist und Drehbuchautor zurück. Vor allem das klassische amerikanische Kino – und die amerikanische Kultur – hatten es ihm angetan, als Leiter eines Filmclubs organisierte er Retrospektiven von Sam Fuller und King Vidor und veröffentlichte zusammen mit Jean-Pierre Coursodon das Buch "30 ans de cinéma americain".

Diese Affinität zur amerikanischen Kino kommt wohl am stärksten in seinem Jazz-Film "Round Midnight" (1986) zum Ausdruck, der zwar in Paris spielt, aber eine große Hommage an die Jazzgrößen Bud Powell und Lester Young ist. Auf eine amerikanische Vorlage griff Tavernier auch bei "Coup de torchon – Der Saustall" (1981) zurück, doch verlegte er den Roman von Jim Thompson von den amerikanischen Südstaaten in die französischen Kolonien in Westafrika. Mit pechschwarzem Humor erzählt Tavernier hier von einem Polizeichef, der von allen betrogen und verlacht wird, bis er beginnt seine Peiniger sukzessive zu beseitigen.

Förmlich als Antithese ließ Tavernier auf diesen bösen Film den impressionistisch-lichtdurchfluteten und melancholischen 1912 spielenden "Un dimanche à la campagne" (1984) folgen. In die Vergangenheit blickt der Franzose auch in seinen Antikriegsfilmen wie "La passion Béatrice" (1987), der gegen Ende des 100-jährigen Krieges spielt, und "La vie et rien d´autre" (1989), in dem ein Kommandant nach dem Ersten Weltkrieg auf den Schlachtfeldern von Verdun die Vermissten und Toten seiner Einheit zu identifizieren und so dem Vergessen zu entreißen versucht.

Gegenpol zu diesen historischen, in teils aufwändigen Kulissen spielenden Filmen stellen wiederum aktuelle Werke, dar, bei denen Tavernier vielfach an Originalschauplätzen und mit Handkamera dreht. So schildert er in "L 627 – Auf offener Straße" (1992) den Alltag einer Gruppe von Drogenfahndern der Pariser Polizei, fokussiert in dem umstrittenen, mit dem Goldenen Bär der Berlinale ausgezeichneten "L´Appat – Der Lockvogel" (1995) anhand eines authentischen Fall auf orientierungslosen Jugendlichen, die zunehmend gewalttätig werden, erzählt in "Ca commence aujourd´hui" (1999) von einem Schuldirektor, der im von hoher Arbeitslosigkeit geplagten Norden Frankreichs für seine Schüler kämpft, oder in "Holy Lola" (2004) von einem französischen Paar, dessen Wunsch nach Adoption eines Kindes zu einer Odyssee durch Kambodscha führt.

Fließt in diese Filme immer auch Dokumentarisches ein, so drehte Tavernier zwischen seinen Spielfilmen immer auch wieder reine Dokumentarfilme. Als Vorarbeit zu "Round Midnight" und "In the Electric Mist" kann in diesem Sinne "Mississippi Blues" (1983) gelesen werden, in dem Tavernier mit dem amerikanischen Regisseur Robert Parrish den Alltag der Menschen im Mississippi-Delta und ihre Musik schildert. Ein dokumentarisches Gegenstück zu seinen gesellschaftskritischen Spielfilmen über Frankreich gelang ihm mit "De l´autre côte du périph" (1998), in dem er gegen die französischen Ausländergesetze Stellung bezieht. Und in seinem vierstündigen Dokumentarfilm "La guerre sans nom" (1990) entreißt er schließlich wie sein Kommandant in "La vie et rien d´autre" den Algerienkrieg und die einfachen Soldaten, die hier zu Wort kommen, dem Vergessen.

So vielfältig Taverniers Werk sein mag, das Engagement für das Individuum, für humanistische Werte und für ein Leben in Würde und Glück und damit freilich wiederum eine heftige Abrechnung mit Institutionen, mit Krieg und Politik, die sich für das Wohl des Einzelnen nicht interessieren, durchzieht alle sein Filme.