"Cinema Nóvo" und der Aufbruch des lateinamerikanischen Kinos

Anfang der 1960er Jahre kam es in vielen Regionen zu einem filmischen Aufbruch. In Brasilien entwickelte sich das so genannte "Cinema Nóvo", das entschieden gegen das US-amerikanische Kino Stellung bezog und sich in eigenständiger Erzählweise mit regionalen Themen auseinandersetzte und Missstände anprangerte. - Das Stadtkino Basel zeigt im Oktober eine Retrospektive des filmischen Werks von Glauber Rocha, des wichtigsten Vertreters des "Cinema Novo".

Die frühen 1960er Jahre brachten in vielen Regionen einen kinematographischen Aufbruch. In Frankreich gedieh die "Nouvelle Vague", in Italien meldete sich mit Bernardo Bertolucci und Pier Paolo Pasolini ebenso eine neue Generation wie in Deutschland wenig später mit den Vertretern des "Neuen Deutschen Films". In Japan traten an die Seite der Altmeister junge Talente wie Nagisa Oshima, Kaneto Shindo und Susumi Hani und auch in Osteuropa machten junge Regisseure mit starken, in einer persönlichen Filmsprache inszenierten Erstlingswerken auf sich aufmerksam. Nur in den USA ließ die Wachablöse und der Anbruch des "New Hollywood" noch knapp zehn Jahre auf sich warten.

Kulturelle Aufbruchstimmung herrschte in den späten 50er und frühen 60er Jahren aber auch in Lateinamerika, geschürt sicherlich auch durch die kubanische Revolution. Bis zu dieser Zeit wurde das Filmschaffen Lateinamerikas mit Ausnahme der in Mexiko entstandenen Filme Luis Bunuels in der westlichen Welt kaum wahrgenommen. Doch mit der Geburt des "Cinema Novo" (1962), "einer Bewegung, die in Opposition zu dem bis dahin in Brasilien dominierenden Kommerzkino stand und zum ersten Mal den Versuch unternahm, aus dem Rückgriff auf nationale Traditionen, ein spezifisch brasilianisches, volkstümliches und gesellschaftskritisches Kino zu entwickeln" (Ulrich Gregor, Geschichte des Films, Bd. 4., S. 409), änderte sich die Situation grundlegend.

Beeinflusst vom italienischen Neorealismus begannen Filmemacher die soziale Ungerechtigkeit und die Unterentwicklung ihres Heimatlandes zu thematisieren. Führender Theoretiker der Bewegung war der 1939 geborene Glauber Rocha, der 1963 eine "Kritische Revision des brasilianischen Kinos" publizierte.

Weltgeltung erlangte die brasilianische Kinematographie in diesen Jahren durch die Filme von Nelson Perreira dos Santos, Ruy Guerra und vor allem Glauber Rocha. Während Pereira dos Santos mit "Vidas Secas" (1964) eine durch ihren Realismus erschütternde Schilderung der Not der Landbevölkerung gelang, faszinierte und verstörte Rocha die Cineasten durch seine kraftvolle Erzählweise und die Verquickung von Mythologie und Sozialkritik ("Deus e o Diabo na terra do sol",1964; "Antonio das Mortes", 1969). Ruy Guerra wiederum erzählte in "Os fuzis"("Die Gewehre", 1964) mitreißend von einem Lastwagenfahrer, der versucht die Dorfbevölkerung zur Revolte gegen Bürgermeister und Soldaten anzustacheln.

Die euphorische Stimmung, die im brasilianischen Kino von 1962 bis 1964 herrschte, erlosch aber schon mit dem Militärputsch von 1964. Leidenschaftlich propagierte Rocha zwar in einem Manifest "Eine Ästhetik des Hungers", in dem er die brasilianische Kultur als eine Kultur des Hungers definierte und eine revolutionäre Ästhetik der Gewalt forderte, die dem Kolonialherren die Existenz des Kolonialisierten bewusst macht. Aus dieser Position heraus distanzierte sich das "Cinema Novo" vom ausbeuterischen industriellen Film und setzte sich für Filme ein, in denen sich die Freiheit widerspiegelt.

Das Militärregime holte aber bald zu Repressionen geben diese filmische Erneuerungsbewegung aus: Politisch unliebsame Filmemacher wurden inhaftiert und gefoltert, verstummten oder emigrierten wie Glauber Rocha und Ruy Guerra.

Äußerte sich in den Werken des brasilianischen "Cinema novo" die Revolte gegen die herrschenden Bedingungen in der Ästhetik, so benutzte der Argentinier Fernando Solanas das Medium dezidiert zur politischen Agitation. Sein vierstündiger Dokumentarfilm "La Hora de los hornos" (1968) ist ein filmisches Pamphlet gegen Neokolonialismus, Imperialismus und kapitalistische Ausbeutungsstrukturen, das mittels einer an Eisenstein geschulten Montagetechnik den Zuschauer aus seiner Lethargie aufrütteln und zum Kampf für die Befreiung Lateinamerikas motivieren soll.

Aber auch die Werke des Chilenen Miguel Littin oder des Bolivianers Jorge Sanjinés belegen die damalige Stärke des lateinamerikanischen Films, der für Ulrich Gregor zwischen 1968 und 1973 die Avantgarde der progressiven Welt-Kinematographie darstellte (Ulrich Gregor, Geschichte des Films, Bd. 4, S. 410). Während Littin in "La tierra prometida" (1973) an einem historischen Beispiel die Revolte der Bauern gegen staatliche Willkür schilderte, ergriff Sanjinés in "Ukamau" (1966) und "Yawar mulka" (1969) entschieden gegen die Ausbeutung der Indios durch die weiße Minderheit und ausländische Organisationen Partei.

Mit dem Sturz Allendes und der Machtübernahme Pinochets in Chile (1973), den Militärputschen in Bolivien (1972) und Argentinien (1976) und dem zunehmenden Terror des brasilianischen Militärregimes, das die Freiräume immer mehr einengte, wurde der Produktion unabhängiger, von den Machthabern als "subversiv" betrachteter Filme ein Riegel vorgeschoben. - Regisseure wie Glauber Rocha, Miguel Littin, Jorge Sanjinés oder Fernando Solanas mussten ihre Heimat verlassen, nur der Kommerzfilm konnte sich am Leben halten. Aber obwohl Glauber Rocha das "Cinema Nóvo" schon Ende der 1960er Jahre offiziell für tot erklärte, lebt dessen Tradition im lateinamerikanischen Film bis heute fort.