Cinema Italiano 2015: Am Puls der Zeit

5. Oktober 2015 Walter Gasperi
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Auch heuer bringt Cinelibre in Zusammenarbeit mit dem Verein Made in Italy fünf Filme in die Schweizer Kinos, die keinen offiziellen Verleih gefunden haben. In 17 Städten sind bis Dezember vier Spiel- und ein Dokumentarfilm im italienischem Original mit deutschen Untertiteln zu sehen, in denen teils hartnäckig und teils auch mit Witz Wirtschaftskrise und Mafia der Kampf angesagt, aber auch an einen der ganz Großen des italienischen Kinos erinnert wird.

Nach Jahrzehnten der Krise hat das italienische Kino in den letzten Jahren auch international wieder für Aufsehen gesorgt. Zu fixen Größen des internationalen Autorenkinos gehören inzwischen Paolo Sorrentino, der 2013 für "La grande bellezza" unter anderem mit dem Oscar ausgezeichnet wurde, sowie Matteo Garrone und Alice Rohrwacher überraschte mit ihrem Zweitling "Le meraviglie – Land der Wunder" (2014).

Während Sorrentino und Garrone inzwischen vielfach international arbeiten, auf englisch drehen und universelle Themen wie Altern und Vergänglichkeit ("Youth") behandeln oder bildmächtig Märchen adaptieren ("I racconto dei racconti"), liegt der Focus der im Rahmen von Cinema Italiano 2015 gezeigten Filme ganz auf der Apenninenhalbinsel.

Die große Zeit des italienischen Kinos und einen seiner Meister ruft der 84-jährige Ettore Scola in seinem Dokumentarfilm "Che strano chiamarsi Federico" ("Wie merkwürdig, Federico zu heißen") in Erinnerung. In einer feinfühligen Mischung aus nachgestellten, teilweise schwarzweißen Szenen, Filmausschnitten, alten Fotos und Karikaturen zeichnet Scola weniger das Leben Federico Fellinis nach als vielmehr seine Beziehung zu diesem mit fünf Oscars ausgezeichneten "größten Pinocchio des italienischen Films, der nie ein anständiges Kind war".

Statt einer faktenreichen Biographie entstand so eine liebevolle und sehr persönliche Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse mit diesem Kollegen und Wegbegleiter. Treffend heißt der Film folglich auch im Untertitel "Scola erzählt Fellini".

Nicht nur in der Zirkusatmosphäre mit dem Auftritt eines Clowns und eines Feuerschluckers am Beginn und in der Art, wie Scola den Film nicht mit dem Tod des großen Geschichtenerfinders enden, sondern ihn darüber triumphieren lässt, sondern auch in der liebevoll-verspielten Erzählweise ist "Che strano chiamarsi Federico" ein teilweise sehr fellinesker Film, der so auch über die Form dem Meister, anlässlich dessen 20. Todestags diese Hommage entstand, seine Reverenz erweist.

Auf das heutige Italien und seine Probleme blicken dagegen die vier Spielfilme, die im Rahmen von Cinema Italiano 2015 gezeigt werden. Mit der Wirtschaftskrise zu kämpfen hat sowohl der Neurobiologe Pietro in Sydney Sibilias Spielfilmdebüt "Smetto quando voglio" ("Ich höre auf, wann ich will") als auch vier Frauen in Edoardo Winspeares "In grazia di Dio" ("Ein neues Leben"), doch unterkriegen lässt sich weder der eine noch die anderen.

Nichts scheint Pietro zunächst sein Studium zu nützen, denn nachdem das Budget der Uni gekürzt wurde, verliert er seinen Job. Ein Besuch in einer Disco, bei dem ihm sündteure Designerdrogen verabreicht werden, bringt ihn aber auf eine Idee. Wie in einem Heist-Movie versammelt er eine Gruppe von befreundeten Experten – ausnahmslos arbeitslose Akademiker –, mit deren Hilfe er die Drogen, die er mit seinen chemischen Kenntnissen mixt, vertreibt.

In der rasanten Erzählweise, den kräftigen Farben und der beweglichen Handkamera, die den Zuschauer ins Geschehen zieht, zeigt diese Komödie der Krise die lange Nase, verbreitet trotz prekärer Situation nicht Depression, sondern macht Mut, indem sie einen überraschenden – wenn auch nicht ganz legalen – Weg aus der Krise zeigt.

Die Krise freilich hat nicht nur Rom erfasst, sondern auch das ländliche Italien. Da mag das sonnendurchflutete süditalienische Salento in Edoardo Winspeares "In grazia di Dio" noch so idyllisch wirken, die Textilfabrik, die Adele zusammen mit ihrem Bruder Vito führt, kann mit der Konkurrenz aus Ostasien einfach nicht mithalten. Die Schulden steigen und das Kreditunternehmen drängt, bis der Familienbetrieb geschlossen, Fabrik und Stadthaus weit unter Wert verkauft werden müssen.

Doch auch hier verfällt die Protagonistin nicht in Depression, sondern der Rückzug aufs Landgut, das die Familie noch besitzt, erweist sich geradezu als heilsam. Während Adeles Mutter alles gelassen hinzunehmen scheint und nur wenig spricht, setzen sich Adeles heftige Konflikte mit ihrer Tochter, deren Leistungen in der Schule zu wünschen übrig lassen und die zudem bald darauf noch schwanger wird, zunächst zwar fort und auch die Schwester mit ihren Träumen von einer Schauspielkarriere nervt sie weiterhin, doch an der bäuerlichen Lebensweise und dem Verkauf der landwirtschaftlichen Produkte findet die starke und von Winspeares Gattin Celeste Casciaro stark gespielte Frau zunehmend Gefallen.

Nach bedrückendem Beginn wird dieser trocken und nüchtern inszenierte Film, der ganz ohne Musik auskommt, so zunehmend leichter und heller, verbreitet Hoffnung und besticht in der Zeichnung der vier unterschiedlichen Frauen aus drei Generationen und der Schilderung ihrer wachsenden Solidarität, die sie die äußeren Krisen meistern lässt.

Auch in Fernando Muracas in Kalabrien spielendem "La terra dei santi" ("Das Land der Heiligen") stehen Frauen im Mittelpunkt, die hier freilich auf gegensätzlichen Seiten stehen. Denn während Caterina, für ihren Mann, der sich versteckt halten muss, die Fäden der `Ndrangheta – einer inzwischen weltweit agierenden Mafiaorganisation – zieht, ermittelt die aus Norditalien stammende Richterin Vittoria geradezu verbissen gegen die Mafia und will vor allem verhindern, dass auch die Kinder in diese von Familienverbänden bestimmte Organisation und ihre Verbrechen hineingezogen werden. Eine Zwischenposition nimmt hier Caterinas Schwester Assunta ein, die zwar keinesfalls mit der Richterin kooperieren will, aber auch mit der Mafia nichts zu tun haben will, da sie durch Bandenkämpfe schon ihren Mann verloren hat, von der Mafia zwangsverheiratet wird und um ihren Sohn fürchtet.

Trocken und ohne Beschönigung ist das inszeniert. Zwar werden die gesellschaftlichen Hintergründe ausgespart, doch besticht und packt dieses Spielfilmdebüt, das weniger ein Mafiafilm als vielmehr ein Frauendrama ist, durch die starken Schauspielerinnen und die dichte und kompromisslose Entwicklung der Handlung.

Packend von einem moralischen Dilemma, aber auch von einer zunehmenden Verrohung und Gewaltbereitschaft von Jugendlichen erzählt schließlich Ivano De Matteo in "I nostri ragazzi" ("Unsere Kinder"), einer Verfilmung des Romans "Het diner" des Niederländers Herman Koch.

Konstruiert mag die Ausgangssituation sein, wenn idealtypisch einem Kinderarzt, der scheinbar der "Gutmensch" schlechthin ist, als Bruder ein Anwalt gegenübergestellt wird, für den die Karriere und materieller Besitz wesentlich zu sein scheinen. Dennoch entwickelt dieses Drama gerade aus dieser Gegenüberstellung Kraft, als die Tochter des Anwalts und der Sohn des Arztes ein Verbrechen begehen und die Eltern vor der Frage stehen, ihre Kinder anzuzeigen oder die Tat zu vertuschen.

Auch das ist ein sachlich und nüchtern inszenierter Film, der ohne spekulative Zuspitzungen arbeitet und aus der Verankerung im Alltäglichen Spannung bezieht, die Erschütterungen in den beiden Familien, die Risse und Spannungen sukzessive steigert. Hier gibt es keine Schnörkel, keine Nebenfiguren, sondern geschickt wird das Dilemma vorbereitet, wird in den monatlichen Essen der Brüder in einem Luxusrestaurant und mit ihren Luxuswohnungen eine Oberschicht vorgestellt, bei der der Zuschauer selbst nach Gründen für die Gefühlskälte und das Aggressionspotential der Jugendlichen suchen muss und sich auch selbst die Frage stellen muss, wie er an der Stelle der Eltern entscheiden und handeln würde.